Veröffentlicht am

Sind wir alle Extrawürste?

Erol Otuan (Tobias Gondolf) versucht die Streithähne Torsten Pfaff (René Oley, links) und Matthias Scholz (Henning Kallweit) zu trennen. Foto: Eugen Sommer
Erol Otuan (Tobias Gondolf) versucht die Streithähne Torsten Pfaff (René Oley, links) und Matthias Scholz (Henning Kallweit) zu trennen. Foto: Eugen Sommer

Bad Vilbel. Was passiert, wenn eine schlichte und im Ablauf vorhersehbare Jahreshauptversammlung plötzlich aus den Fugen gerät und ein beschaulicher Dorfsportverein zum Schauplatz sämtlicher sozialer Konflikte zwischen Rassismus und Islamophobie, Vegetarismus und Gendersprache, Machtstreben und Eifersucht wird? Die rasante Satire »Extrawurst« nach dem Buch des Stromberg-Ladykracher-Erfolgsduos Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob lieferte eine fulminante Antwort bei der umjubelten öffentlichen Generalprobe im Theaterkeller der Bad Vilbeler Burgfestspiele.
Unter der Regie von Stephan Bestier und in der Dramaturgie von Ruth Schröfel entfaltete das Ensemble die Eskalation in atemberaubender Geschwindigkeit und einer Kaskade von Pointen, die abwechselnd erheiterten, schockierten und zur Selbstreflexion anregten. Unter dem Vorsitz von Dr. Heribert Bräsemann (Harald Schröpfer) kommen die Mitglieder des Tennisclubs 1977 Lengenheide zu einer Jahreshauptversammlung zusammen, deren Beschlüsse reine Formsache zu sein scheinen.
Toleranz auf die
Probe gestellt

Doch aus dem Durchwinken der Regularien und dem Übergang zum gemütlichen Teil mit Bier und Buffet wird diesmal nichts: Vielmehr entspinnt sich eine zunehmend hitzige Diskussion um die Frage, ob der gläubige Moslem Erol Oturan (Tobias Gondolf) und seine Familie beim anstehenden Sommerfest einen eigenen schweinefleischfreien Grill betreiben dürfen.
Der Clash der Kulturen stellt die Toleranz des Vereins und seiner Mitglieder auf eine harte Probe: Torsten Pfaff (René Oley) als cooler, eloquenter Hipster, Werbetexter und bekennender Atheist gerät in Turbulenzen zwischen seinem Respekt vor den Religionen und andererseits der Aufklärung, vor der Wertschätzung für Oturan als erfolgreichem Tennis-Partner seiner Frau Melanie und Eifersucht.
Bälle illustrieren
Hindernisse

Matthias Scholz (Henning Kallweit), Vize und Schriftführer mit Ambitionen auf den Vorsitz und Hang zu rechtspopulistischen Sprüchen, sieht seine große Stunde gekommen und bereitet den ersehnten Machtwechsel an der Vereinsspitze vor. Und die emanzipierte Melanie Pfaff (Svenja Wasser) kämpft für ihren Duopartner, außerdem aber auch um Gleichberechtigung, schließlich um ihre Ehe auf dem Prüfstand. Die gesamte Gruppendynamik rutscht unter Wortgefechten im Zeitraffer immer weiter in die Absurdität und ins Chaos ab, man redet aneinander vorbei, widerspricht einander und sich selbst, Spaltungen innerhalb des Vereins und der einzelnen Personen halten dem Publikum und der Gesellschaft einen schonungslosen Spiegel vor.
Für zusätzliche Effekte sorgt die Ausstattung von Dorothea Mines in Gestalt übergroßer, neongelber Tennisbälle, die spielerisch und witzig die Hindernisse und Fallstricke des Geschehens illustrieren. Zwei Karrieretreppen stehen nicht nur für die Machtbestrebungen der beiden Vorsitzenden, sondern auch für den achterbahnähnlichen Verlauf des Abends, in dessen Verlauf es zu blutigen Nasen und gebrochenen Herzen, haarsträubenden Verbalattacken, Vereinsaustritten und halbherzigen Versöhnungsversuchen kommt.
Erkenntnis und zugleich Leichtigkeit in zerstörerische Kommunikationsmechanismen zu bringen, die jede Kleinigkeit sogleich zum existenzbedrohenden Drama hochkochen – dies sei eines der Anliegen ihres Stückes gewesen, heben die Autoren Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob in Interviews hervor. Gelegentlich lassen sie auch in ihren Inszenierungen das Publikum gemeinsam mit den Vereinsmitgliedern abstimmen, etwa ob Champion Erol Oturan nun seinen Sondergrill und somit die »Extrawurst« bekommen soll oder nicht.
In jedem Fall bietet diese Satire einen erfrischenden Blick auf gesellschaftliche Konflikte im Großen wie im Kleinen, über die man sich aktuell oftmals verbissen den Kopf zermartert. Oder, wie es der alte und neue Tennisclub-Vorsitzende Dr. Heribert Bräsemann abschließend formuliert: »Über manche Dinge kann man nicht diskutieren, wir müssen einander so lassen, wie wir sind. Letztlich sind wir alle Würstchen.«
Von Inge Schneider

Weitere Vorstellungen
Die nächsten Vorstellungen: Samstag, 1. Juli, 23 Uhr; Sonntag, 2. Juli, 21 Uhr; Sonntag, 9. Juli, 15 Uhr und 21 Uhr. Weitere elf Aufführungen siehe www. kultur-bad-vilbel.de. Tickets gibt es im Kartenbüro, Klaus-Havenstein-Weg 1, Telefon (06101) 559455.