Heimat: Es gibt sie noch, und sie blüht – aber sie verändert sich auch schneller, als den meisten Menschen geheuer ist. Das war beim Neujahrsempfang des Wetteraukreises deutlich zu spüren. Einerseits traf man viele alte Bekannte, hielt ein Schwätzchen bei Sekt und naschte Käsehäppchen. Andererseits malten die Redner eine Zukunft aus, die manchem Besucher eine Gänsehaut über den Rücken laufen ließ.
Wetteraukreis. Es fing im Plenarsaal des Friedberger Kreishauses ganz harmlos an. Mit Handschlag begrüßten die Kreisbeigeordneten Stephanie Becker-Bösch (SPD) und Jan Weckler (CDU) jeden der etwa 200 Gäste aus Politik, Wirtschaft, Verbänden und Kirchen. Den Landrats-Wahlkampf hielten die beiden Kandidaten weitgehend außen vor – man bedankte sich für die gegenseitige Fairness.
Beim Neujahrsempfang sprach Weckler zur Begrüßung, Becker-Bösch zum Schluss. Ohne die vielen Ehrenamtlichen und Vereine, ohne die engagierten Bediensteten des Kreises wäre die Wetterau längst nicht so gut aufgestellt wie jetzt, sagte die sozialdemokratische Kreisbeigeordnete. Und ihr CDU-Kollege würdigte, dass nun schon ein ganzes Menschenalter lang Friede und Wohlstand herrsche.
10 % mehr Wetterauer
Aber es werde sich viel ändern. Der Siedlungsdruck sei enorm, so Weckler. „Wir rechnen damit, dass der Wetteraukreis in den nächsten zehn Jahren um bis zu 30 000 Bürger zunehmen wird.“ Also etwa zehn Prozent mehr als jetzt. Man müsse bauen – Häuser, Straßen, Schulen, Kitas. Es brauche mehr Arbeitsplätze, bessere Gesundheitseinrichtungen und öffentliche Verkehrslinien.
Kuschelig wird diese Heimat der Zukunft aber nicht, wenn man Fritz Grimminger zuhört. Der aus Butzbach stammende Mediziner und Biologe malte den Neujahrs-Gästen die nahe Zukunft in düsteren Farben aus. Der Mensch habe den Planeten erobert und Hunger, Krankheiten und Kriege besiegt, behauptete Grimminger. Die gebe es zwar noch, aber: „Auf der Welt haben wir so wenige Kriege wie nie zuvor.“ Pro Jahr kämen dabei rund 700 000 Menschen ums Leben – doch durch Suizide stürben 800 000 Menschen, durch Verkehrsunfälle gar 1,5 Millionen.
Und nun schiebe der Mensch mit Hilfe der Wissenschaft das Altern und Sterben immer weiter hinaus, berichtete Grimminger. „Die Lebenserwartung steigt alle 30 Jahre um sieben Jahre an. 140 Lebensjahre sind nach wissenschaftlichen Erkenntnissen möglich und auch erkennbar erreichbar.“ Unter den Zuhörern erhob sich ein Murmeln.
Unheimliches Szenario
Der Wissenschaftler legte nach: Der Mensch werde sich selber verbessern. „Der Tod ist schon heute ein technisches Problem, das wir mit den richtigen Instrumenten lösen können.“ Es gebe Anti-Aging-Medikamente. Manche zeigten im Tierversuch, dass man mit ihnen die Lebenserwartung verdoppeln könne.
Der Mensch werde auch zum Cyborg: Es gebe längst schon Hörgeräte und Cochlea-Implantate. Kommen werden Retina-Implantate, behauptete Grimminger. Die könnten es dem Menschen möglich machen, viel mehr und auch im Dunkel zu sehen. „Sie glauben das nicht?“, fragte der Mediziner sein skeptisch dreinblickendes Publikum. „Vor 15 Jahren habe ich auch nicht an Smartphones und mobiles Internet geglaubt.“
Die schöne neue Welt könne allerdings auch scheitern, räumte Grimminger ein. Wenn es nicht gelinge, das menschliche Gehirn 140 Jahre lang wach und leistungsfähig zu halten. Oder wenn die Bakterien neue Waffen gegen den Menschen einsetzten. „Denn die sind uns drei Milliarden Jahre voraus“. Oder wenn es soziale Unruhen gibt. Denn der technische Fortschritt biete nicht genug Arbeit für alle. Man könne sich zwar leisten, die künftige Klasse der „Nutzlosen“ großzügig zu alimentieren. Aber unklar sei, ob die sich damit zufrieden geben.
Die Auswirkungen des menschlichen Tuns auf die Umwelt blieben im Plenarsaal unerwähnt. Die Musikschulband „Sound Salad“ spielte einen Reggae und „Walking on Sunshine“ – und dann ging es ans Büfett. Doch die Botschaften dieses Nachmittags waren nicht so leicht aus den Kleidern zu schütteln. Nein – die von Grimminger beschriebene Zukunft wolle er dann doch nicht mehr erleben, bekannte der Architekt und Denkmalbeirats-Vorsitzende Gustav Jung. 140 Lebensjahre – das sei ja unheimlich.