Bad Vilbel. Scharfe Kritik an einer für ihn erkennbaren „Neubewertung aus einer geschichtsrevisionistischen Position“ übte am Freitag, den 10. November, bei der Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht vom November 1938 der Historiker Rolf Seubert von der Uni Siegen. Vor allem im Osten der Republik sei „unten bereits angekommen, was in den Köpfen oben initiiert worden ist“, sagte er am Alten Rathaus. Seubert hat mit Rafael Zur, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, die Aufarbeitung der jüdischen Historie Vilbels angestoßen. In seiner Rede nahm er Bezug auf den Historiker Arnulf Baring, der den Nationalsozialismus als „beklagenswerte Entgleisung eines irgendwie zu Stande gekommenen Unfalls“ verstehe. Wenn Kinder in Geistermasken läutende Kirchenglocken am 31. Oktober Halloween zuschrieben, ohne etwas vom Reformationstag gehört zu haben, sorge es ihn, dass die „unübersehbare Fun- und Event-Kultur die Gedenktage, die nicht fröhlich gefeiert werden können“, verdränge, so Seubert. Er fürchte, dass der 9. November sich zu einem rein jüdischen Gedenktag entwickele, der „spätestens, wenn die letzten Zeitzeugen verschwunden sein werden, aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen als unangenehmer Gedenktag verdrängt“ werde. „Am Vergessen wird schon lange gearbeitet“, stellte der Redner fest. Er nannte als Beleg einen „Geschichtsrevisionismus, der lange Zeit auf unbedeutende Parteien beschränkt war.“
Bürgermeister Thomas Stöhr sagte, in Bad Vilbel sei verstärkt versucht worden, das Datum des 10. November (in der Stadt erfolgten die Ausschreitungen gegen die Juden einen Tag später, Anm. d. Red.) nicht isoliert zu sehen, „sondern in einen Konsens zu bringen mit Veranstaltungen, die sich aber alle um die jüdische Geschichte drehen.“ Exemplarisch nannte er den Film über die Familien Lapp und Schütz und die Verlegung der „Stolpersteine“ von Gunther Demnig (wir berichteten). Junge Menschen, für die das Dritte Reich Geschichte sei, zeigten sich „berührt, wenn sie Menschen zuhören, die ihnen berichten, was sie selbst erleben mussten“. Stöhr erinnerte auch an den Donnerstagabend, als in der Alten Mühle unter dem Titel „Der Ghetto-Swinger – eine Jazzlegende erzählt“ eine Lesung mit Musik zum Holocaust-Gedenken stattfand, und verwies auch auf den vergangenen Sonntag und die Enthüllung einer Informationstafel am Jüdischen Friedhof.
Auf das „sehr aktive kulturelle und gesellschaftliche jüdische Leben in Vilbel“ blickte Rafael Zur zurück. Die Barbarei, mit der es am 10. November unter den Augen Untätiger ausgelöscht worden sei, müssten alle als Aufforderung verstehen, einzugreifen, „wenn Minderheiten beleidigt oder verletzt werden.“ Seine Tochter, Vered Zur-Panzer, bezog sich auf die Stolpersteine: „Sie können nicht das große Leiden wiedergeben, das hier böse angerichtet wurde. Das ist nicht nur jüdische, sondern auch ein Teil deutscher Geschichte, den es wach zu halten gilt.“ Mit Blick auf München, wo tags zuvor die neue Synagoge eingeweiht wurde, bedauerte sie, „dass wir in Bad Vilbel keine Synagoge mehr haben, nur ein Skelett ohne Innenleben.“
Nach dem Gebet des Kantors Raskin Shlomo (Jüdische Gemeinde Frankfurt) setzte sich ein Gedenkzug zum jüdischen Friedhof in Bewegung.