Bad Vilbel. Sebastian Stehrs Graffiti-Werke sind weit über die Stadtgrenzen Bad Vilbels hinaus bekannt. Jetzt soll der 49-Jährige 40 000 Euro Steuern nachzahlen. Grund ist, dass er seine Auftragsarbeiten an Wänden nicht mit sieben, sondern 19 Prozent versteuern soll. Stehr steht vor dem finanziellen Aus – und will vor Gericht für eine ganze Kunstszene kämpfen.
Eigentlich wollte Sebastian Stehr aus anderem Anlass an die Lärmschutzwand in Dortelweil einladen. 43 Werke seiner »Was ist Liebe«-Reihe gibt’s in der Freiluftgalerie im Stadtteil mittlerweile zu entdecken. Die Kombination aus verfremdeten Selbstporträts und nachdenklichen Texten zeichnet sie aus. Stehr möchte Denkanstöße geben. Plan des 49-Jährigen war es, ein Buch mit dem Titel »Was ist Liebe – Philosophische Graffiti – 100 Wände« zu veröffentlichen – inklusive Vernissage an der Lärmschutzwand. »Wir haben mittlerweile schon über 100 Wände«, berichtet er. Werke des Künstlers sind in Paris, Amsterdam, Frauenfeld in der Schweiz, Peru, Atlanta oder San Diego in den USA zu sehen. Doch statt einen Verleger zu suchen, hat Stehr ganz andere Probleme. Er soll – rückwirkend für fünf Jahre – 40 000 Euro Umsatzsteuer nachzahlen. Ein Schock. »Meine ganze Existenz ist bedroht.«
Auseinandersetzung
beginnt 2019
Angefangen hat die Auseinandersetzung mit dem Finanzamt 2019. »Ich hatte ein sehr gutes Jahr mit vielen Aufträgen, und mein Umsatz hat sich verdoppelt.« Seine Steuererklärung wird daraufhin genauer geprüft. Das Ergebnis: Stehrs Arbeit unterliege nicht der ermäßigten Umsatzsteuer für Kunst von sieben Prozent. Er soll seine Aufträge mit 19 Prozent versteuern. Stehr zieht vor Gericht. Der Vater von zwei Kindern sagt: »Damit wäre alles, was ich mir aufgebaut habe, kaputt.« Wie das Finanzamt zu der Einschätzung kommt, versteht Stehr nicht. »Es ist eine Grauzone«, sagt er. Die Kurzfassung: Künstler zahlen in Deutschland einen ermäßigten Umsatzsteuersatz von sieben Prozent. Stehrs Anwältin Julia Straburzynski informiert: »Im Hintergrund schwebt die Rechtsfrage, ob Graffiti steuerrechtlich anderer Kunst wie Leinwand oder Bildhauerei gleichgestellt werden kann. Für die Lieferung dieser Gegenstände gilt ein ermäßigter Umsatzsteuersatz von sieben Prozent.« Stehrs Werke entstehen – und das wissen gerade viele Karbener und Vilbeler – nicht auf Leinwänden, sondern an Gebäuden in der ganzen Stadt. »Das wird nicht berücksichtigt«, sagt Stehr. Alles dreht sich nun um die Frage: Ist eine Wand lieferbar? Das Finanzgericht in Kassel urteilt: Nein. Revision nicht zugelassen. Stehr ist geschockt: »Das würde eine ganze Szene vor große Ängste stellen.« Besonders ärgert den Künstler: »Als ich vor vielen Jahren den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt habe, habe ich beim Finanzamt genau nachgefragt, wie ich mich anmelden muss, damit alles richtig ist. Jetzt soll ich dafür bestraft werden.«
Das Kuriose: Würde Stehr seine Werke auf Leinwände sprühen, diese der Stadt liefern und sie diese an der Lärmschutzwand befestigen, würde er nur sieben Prozent Steuer bezahlen. »Das ist doch absurd.« Alles wegen der »Lieferbarkeit«. Stehr verweist auf ein EU-Gerichtsurteil, das entschieden habe, »dass sogar Immobilien lieferbar seien«.
Stehr: Eingriff in
die Kunstfreiheit
Für ihn ist diese Entscheidung ein Eingriff in die Kunstfreiheit. Der Staat sage zwar, dass er keine Bewertung vornehme, was Kunst ist – und was nicht. »Aber genau das passiert, wenn Graffiti mit 19 Prozent und andere Kunst mit sieben Prozent besteuert wird«, sagt er. »Eine ganze Kunstform hat es viel schwerer zu überleben.« Stehr ist überzeugt: »Die Kunst muss frei bleiben.«
Jetzt wendet sich der 49-Jährige gegen das Urteil des Hessischen Finanzgerichts, das die Revision nicht unmittelbar zugelassen hat. Anwältin Straburzynski erklärt: »Um gegen das Urteil selbst vorgehen zu können, mussten wir daher zunächst Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesfinanzhof einlegen.« Die Hürden für die Zulassung der Revision sind hoch. »Sie ist unter anderem zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.« Heißt: Die maßgebliche Rechtsfrage müsse über den konkreten Einzelfall hinausgehen, ein allgemeines Interesse vorliegen. Stehr sagt: »Genau darum geht es. Wenn sich nichts ändert, dann wird das Folgen für ganz viele meiner Kollegen und Kolleginnen haben.« Graffiti müsse als Kunstform genauso anerkannt werden, wie andere Formen auch. Stehr weiter: »Die Kunst ist im Wandel, wie unsere Gesellschaft. Manche Kunstformen, die es heute gibt, gab es vor vielen Jahren noch gar nicht. Da muss auch das Gesetz angepasst werden.«
Chancen liegen
bei rund 20 Prozent
Der Bundesfinanzhof entscheidet jetzt nur über die richtige Anwendung von Bundesrecht – und zwar darüber, ob der angegriffene Steuerbescheid, der auf seine Graffiti-Arbeiten 19 Prozent Umsatzsteuer veranlagt hat, richtig ist.
Die Wahrscheinlichkeit, dass der Bundesfinanzhof die Revision zulässt, ist gering. Stehr und seine Anwälte schätzen die Chancen auf 20 Prozent. Der Künstler will weiter kämpfen: »So schnell gebe ich nicht auf.« Von Patrick Eickhoff