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In die weite Welt

Wandergesellin Chadidscha arbeitete bei den Burgfestspielen und zog dann weiter

Nadel, Faden und Schere sind während der Walz wichtige Werkzeuge. Foto: Lori
Nadel, Faden und Schere sind während der Walz wichtige Werkzeuge. Foto: Lori

Seit mehr als drei Jahre ist die Maßschneiderin Chadidscha auf der Walz. Ihren Nachnamen hat sie für diese Zeit abgelegt und nennt sich fremde, freireisende Schneiderin. Die 25-Jährige ist ohne Mobiltelefon und Computer unterwegs. Für drei Monate hatte sie Arbeit in der Schneiderei der Burgfestspiele gefunden. Es ist die maximale Aufenthaltsdauer, denn „sobald die Hunde nicht mehr bellen und der Postbote einen mit Namen begrüßt, ist es Zeit weiterzuziehen“, sagt sie.

Bad Vilbel. Ihrem Heimatort Wüstefeld bei Rotenburg an der Fulda darf Chadidscha nicht näher als 50 Kilometer kommen. So lautet eine Regel der Wandergesellen. Auch Durchreisen ist nicht erlaubt. Ihren Beruf hat die junge Frau zwischen 2009 und 2012 erlernt und seitdem in unterschiedlichen Ländern als Maßschneiderin gearbeitet.

Im August 2016 ist sie von Wüstefeld in die weite Welt aufgebrochen. „Wandergesellen holten mich ab. Traditionell kletterte ich über das Ortsschild, ging los ohne mich umzudrehen und wanderte die ersten 50 Kilometer“, sagt Chadidscha. Seitdem ist sie „direkter und ursprünglicher unterwegs“ als sie es in ihrem bisherigen Berufsleben war. Dass auch Schneiderinnen auf Wanderschaft gehen können, das wüssten nur die wenigsten Leute, sagt sie. Doch tatsächlich ist es in vielen Handwerken möglich, auf die Walz zu gehen.

Kontakte ergeben sich

Dazu zählen auch Bäcker, Goldschmiede, Bootsbauer, Zimmerleute, Steinmetze oder Maurer. Für Unterkunft und Verpflegung arbeitet sie in der Fremde und erhält einen Gesellenlohn. Geld darf sie für Unterkunft und Fortbewegung nicht ausgeben. Sie bekommt nicht von jedem Betrieb eine Zusage. Manchmal sucht sie länger nach einer Arbeitsstelle. Sie ist viel zu Fuß unterwegs, doch es gibt auch Monate, wo sie jeden Tag trampt.

Öffentliche Verkehrsmittel nutzt sie nicht. In erster Linie möchte sie Lebens- und Berufserfahrung sammeln und hat gelernt, dass Reisen etwas mit Minimalismus zu tun hat und sich auf Reisen viele Möglichkeiten offenbaren und Kontakte ergeben. „In der Schneiderei der Burg arbeite ich sehr gerne. Die Kollegen sind sehr kompetent und nett, und die Atmosphäre ist schön“, sagt die Wandergesellin. Ihren Job beschreibt sie als arbeitsintensiv, an „einem rundum sehr guten Ort“.

Die Empfehlung erhielt sie von einer jungen Frau an der Semperoper in Dresden, die auch schon in der Schneiderei der Burg gearbeitet hat. Noch im Sommer trampt Chadidscha in die Nähe von Hannover, wo sie vorübergehend bei einem Hutmacher beschäftigt sein wird. In der Schneiderei in Bad Vilbel näht sie Kostüme für die Schauspieler und führt Änderungsaufträge aus. Außerdem ist sie als Ankleiderin beschäftigt. Nach Vorlage der Kostümbildner und in Zusammenarbeit mit den Gewandmeistern, hat sie sehr viele Kostüme für die Produktionen „Ein Käfig voller Narren“ und „Die Nibelungen“ angefertigt.

Während ihrer Wanderschaft führt sie Schere, Nadel und Faden mit sich, trägt die rot-weiße Kluft einer Schneiderin und einen schwarzen Hut. In ihrem Bündel befinden sich das Wanderbuch, in dem Städtesiegel von ihren besuchten Orten gesammelt werden, Klamotten zum Wechseln und eine Haarbürste. Die Wanderschaft empfindet sie als eine sehr prägende Zeit in ihrem Leben: „Ich könnte mir später eine Selbstständigkeit vorstellen, aber auch die Arbeit an einem Theater“, sagt sie.

Übernachtung im Freien

Während der Wanderschaft steht die Suche nach Unterkünften und Arbeitsstellen jedoch im Vordergrund. Es gibt auch Tage, an denen die 25-Jährige im Freien schläft. Zumeist wählt sie den Wald für die Übernachtung im Schlafsack unter freiem Himmel aus. Im zweiten Jahr arbeitete sie in Österreich, der Schweiz, in Frankreich und Italien. „Mein Traum ist es, nach Nordafrika zu gehen“, sagt Chadidscha, während ihr Ohrring im Sonnenlicht glänzt. Er trägt das Symbol einer Schere und ist von ihrer Schwester, einer Goldschmiedin, angefertigt. Auch heute noch wird man mit dem Ohrläppchen an einen Balken genagelt. Dann bekommt man Ringe an die Ohren. Im Mittelalter waren sie dazu da, die Beerdigung zu bezahlen, falls man unterwegs stirbt. Archaisch wirkt das heute im Zeitalter von Piercings aber eher nicht.


Früher war die Wanderschaft (auch Walz oder Tippelei) des Gesellen die Voraussetzung für die Prüfung zum Meister. Die Gesellen sollten neue Arbeitspraktiken, fremde Orte, Regionen und Länder kennenlernen sowie Lebenserfahrung sammeln.