Bezugnehmend auf den Leserbrief von Christian Schnee am 9. April im Bad Vilbeler Anzeiger („Die Nidda und die Renaturierung des Sprachflusses“) erreichte uns nachfolgender Leserbrief:
Herr Schnee, sicherlich könnte es verdienstvoll sein, wenn jemand, der offensichtlich so lange im Ausland gelebt hat, dass er als „Dozent für Public Relations“ (welch amüsantes Sprachgemisch) unsere Entwicklung kritisch betrachtet. Und sicherlich sind die Probleme in „University of Worcester“ andere als an unserer heimischen Nidda. Auch werden Sie vermutlich an der „Buisiness School, England“ globalere Probleme betrachtet haben als die in Hessen und Holland. Doch als jemand, der sich in den hiesigen Niederungen um eine nachhaltige Zukunftssicherung bemüht, erlaube ich mir einige Ergänzungen zu dem Aufsatz, den der kommunale Politiker UND Umweltschützer Paul geschrieben hat, damit Sie den Artikel mit den wenigen Anglizismen auch verstehen können, wie er gemeint ist. Dazu sind allerdings einige wenige Geschichtskenntnisse des Heimatraumes nützlich.
Als zur glorifizierten Zeit des Wirtschaftswunders unter anderem (Hausrats- und Gebäude-) Versicherungen die Ausweisung von Bauland blockierten, wurden Programme zur Minimierung der Versicherungszahlungen bei den regelmäßigen Überschwemmungen erstellt. Die preiswertesten waren, die Flüsse durch Beseitigen der Flussschleifen zu kürzen, die Fluss-Sohlen tiefer zu legen und die Uferböschungen zu erhöhen. Dadurch verloren allerdings die Flüsse ihren landschaftsprägenden Charakter und alte ökologische Bezüge wurden zerstört (Abhacken der flussbegleitenden Bäume, Vertreibung der Uferfauna, zum Beispiel Wasservögel, Fischsterben). Diese Maßnahmen störten praktisch die oberhalb der Maßnahmen Wohnenden wenig (Oberlieger), hingegen die unterhalb liegenden stark, denn nun kam das Ergebnis der üblichen „Starkregenereignisse“ durch den kanalähnlichen Flusslauf blitzschnell bei den Unterliegern an.
Weil wir in Bad Vilbel zwar global denken, aber lokal handeln (Orientierung der Agenda 21), denken wir auch an Holland. So planten die Stadtverwaltungen von Bad Vilbel und Huizen (Provinz Nordholland) im Rahmen der europäischen Städtepartnerschaften einen Workshop (1989), in dem diese Zusammenhänge aufgezeigt werden sollten. Dabei erkannten einige Vilbeler Bürger ihre (Teil-)Verantwortung für andere Europäer.
Die Definition „Jahrhunderthochwasser“ ist in Deutschland ein versicherungstechnischer Terminus, der angibt, wie oft mit dem befürchteten Szenario in hundert Jahren gerechnet werden muss.
Entsprechend wurden die Maßnahmen zur Wasserführung des einstigen Flusses (jetzt als Kanal wirkende) Nidda ausgebaut.
Bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts bildete sich fast jedes Jahr zwischen „Heilige Dreikönigen“ und Gründonnerstag über mehre Wochen hin eine Seenlandschaft, die mitunter von Okarben bis Bad Vilbel Kernstadt reichte und dort auch jenes Areal oft überschwemmte, wo der alte Teil des Kurparks geschaffen wurde.
Leider erkennen Beobachter, gestützt auf empirische Untersuchungen, dass diese Jahrhundertereignisse von Überschwemmungen häufiger vorkommen, ohne dass sich die Niederschlagsmengen (in der Summe) signifikant verändert haben. Dafür gibt es eine Palette von Begründungen, auf die ich hier nicht eingehen möchte.
Um den „Unterliegern“ die Konsequenzen so weit wie möglich zu ersparen (zum Beispiel Versicherungsprämien) wurde vorgeschlagen, bei den „Oberliegern“ Rückhaltebecken zu schaffen, die für die einst heimische Flora und Fauna geeignet sind und die auch ohne große Korrekturen funktionieren werden (nachhaltig).
Bei aller Enge des heimischen Raumes (Privateigentum von Feldern und Wiesen) gelang es durch das Zusammenwirken vieler Institutionen, darunter die Stadt Bad Vilbel, das Wasserwirtschaftsamt und finanziert durch die „Gerti-Strohm“-Stiftung, das Niddabett auf drei Kilometer Flusslänge bis auf eine Breite von 300 Metern auszuweiten und somit ein fast ein Quadratkilometer großes Areal zu schaffen, welches die Nidda bei Hochwasser auffüllen kann, ohne bei den Unterliegern Versicherungsschäden zu verursachen.
Natürlich reicht diese eine Maßnahme nicht, das Problem der Hochwasser aufzuheben, aber es ist eine Maßnahme, um die umweltschädigenden Folgen aus den 60er Jahren zu verringern, denn heute haben wir die Kanalisierung als Zerstörung des Biotops Nidda erkannt und somit als „Umweltsünde“ bewertet.
Personen wie Peter Paul haben für die Umsetzungen solcher Erkenntnisse viel beigetragen, grundsätzlich in ihrer Freizeit und ehrenamtlich. Das macht mir Hoffnung. Angst machen mir „Dozenten für Public Relations“, die wertende Aussagen abgeben, ohne den Ansatz von Ahnung zu haben.
Hans Tuengerthal, Bad Vilbel
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