Ein Jahrhundertprojekt ist vollbracht: Die Nordumge- hung Karben ist in Betrieb. Das erste Auto rollt am Mittwochmittag von Okarben Richtung Groß-Karben. Fast eine ganze Stadt atmet auf.
Karben. Sie kann heute lachen. „So ein toller Tag“, sagt Ursula Baumgartl (76). In der Menge der mehr als 50 Besucher auf der Kreuzung der Abfahrt Okarben nimmt kaum jemand Notiz von ihr. Dabei ist die Groß-Karbenerin emotional so eng mit der Nordumgehung verbunden wie niemand anderes.
Ursula Baumgartl hat mit ihrem Mann Rudolf über Jahrzehnte den Lärm des Durchgangsverkehrs in der Bahnhofstraße in Groß-Karben ertragen. In einem Abstand von nur gut einem Meter rollten Autos und dröhnten die Lastwagen vor dem Wohn- und Schlafzimmerfenster vorbei. Jahr für Jahr wurden es mehr Fahrzeuge, immer lauter.
Vor etwas mehr als zehn Jahren gehörten die Baumgartls deshalb zum engen Kern derjenigen, die die Bürgerinitiative „Nordumgehung jetzt!“ ins Leben gerufen hatten. Mit dabei waren auch Harald Ruhl, Peter Mayer und Hartmut Polzer.
Die drei pusten etwas abseits auf der zu diesem Zeitpunkt noch gesperrten Straße 50 gelbe Ballons auf. In der Farbe der BI, in der auch die Banner und Schilder über Jahre hinweg im Straßenbild zu sehen waren.
Oh, eine Demo!
Warum 50? „Einer für jedes Jahr der Geschichte der Nordumgehung“, sagt Ruhl. Genau zehn Jahre und einen Tag ist es her, dass die BI gegründet wurde. Und zuvor ist seit 40 Jahren in der Stadt über die Entlastungsstraße diskutiert und gestritten worden.
Die Ballons verunsichern Hessens Europaministerin Lucia Puttrich (CDU), die den offiziellen Freigabeakt per Scherenschnitt am symbolischen Absperrband vornimmt. „Als ich hierher kam und die Ballons sah, dachte ich schon: ,Oh Schreck, eine Demo!‘“, sagt Puttrich. „Aber das ist hier in Karben nur ein Ausdruck der Freude.“ Die Besucher lachen laut auf.
„Das ist ein ganz wichtiger Tag für unsere Stadt“, freut sich Bürgermeister Guido Rahn (CDU) euphorisch. Die neue Straße sei „eine wichtige Sache“ für hunderte Anwohner, die nun vom Durchgangsverkehr befreit seien, erinnert Rahn. Und tausende Pendler, die sich nicht mehr durch den Stau in den engen Ortsdurchfahrten quälen müssen.
15 800 Autos und Laster werden täglich über die Nordumgehung rollen. In Groß-Karben soll der Verkehr in Bahnhofstraße, Heldenberger, Ludwig- und Burg-Gräfenröder Straße im Gegenzug um bis zu zwei Drittel sinken. 17,5 Millionen hat die neue Strecke gekostet, wovon der Wetteraukreis zwei Millionen, das Land den Rest bezahlt hat. Wobei: Bezahlt hat den Landesanteil zunächst die Stadt. Nur so sei 2012 ein schneller Baubeginn möglich gewesen, sagt Ministerin Puttrich. Das Land hätte das Geld erst 2015 gehabt. Die Vorfinanzierung wiederum bringt der Stadt Bares: Die bessere Verkehrsanbindung schlägt sich über höhere Baulandpreise in Groß-Karben und Burg-Gräfenrode in der Stadtkasse nieder. Im Gegenzug bleiben laut Bürgermeister Rahn dank der Niedrigzinsphase nur rund 100 000 Euro an Zinskosten im Stadtsäckel hängen. „Das hat sich richtig gut gerechnet für uns“, ist Rahn froh.
Start ab 12.52 Uhr
Nicht nur mit der Vorfinanzierung hatte Rahn den Bau auf den Weg gebracht. Zuvor hatte er in Verhandlungen die Gegner der Umgehung mit dem Angebot, dass die Stadt zusätzliche Lärmschutzwälle baut, dazu gebracht, dass sie ihre Klage fallen ließen. Als Ministerin Puttrich Rahn ein Lob zollt, gibt es Applaus und „Bravo“-Rufe.
40 Jahre Planungszeit seien „eine lange Geschichte für 3,2 Kilometer“, räumt die Ministerin ein. Erst mit dem beherzten Vorantreiben des Themas durch die BI-Aktiven und den Bürgermeister sei Schwung hineingekommen.
3000 Unterschriften sammelte die BI, organisierte zwei Demos. Nun haben die Aktiven ihr Ziel erreicht: Die Straße ist in Betrieb. Das macht Ursula Baumgartl zufrieden. Auch wenn ihr Mann Rudolf es nicht mehr miterleben kann. Von einem Schlaganfall 2011 erholte er sich nicht mehr.
Mit dem Auto, dass er noch gekauft hatte, war Ursula Baumgartl Mitte Dezember vor einem Jahr die erste, die über die Nordumgehung rollte. Als damals der erste, östliche Abschnitt freigegeben wurde. Diesmal wird es BI-Mitstreiter Peter Mayer sein, der als erster mit seinem Kleinbus die Straße hinunterrollt nach Groß-Karben. Genau um 12.52 Uhr.
Autofahrer in Karben sind begeistert darüber, welchen Zeitgewinn die Nordumgehung bringt. Euphorisch klingen die ersten Erfahrungsberichte auf Facebook. Einige der Nutzer der neuen Ost-West-Verbindung sollten sich aber nicht zu sehr freuen: all jene, die zwischen Karben und Nidderau fahren. Sie werden ab dem Frühjahr kurz hinter Groß-Karben vor einer Absperrung stehen. Ab dann wird die 17,5 Millionen Euro teure Ortsumgehung zur Sackgasse.
Grund: Die seit Jahren schwer marode Kreisstraße 246 zwischen Groß-Karben und Heldenbergen wird saniert, ausgebaut und um einen Radweg ergänzt. „Ein Baubeginn ist im Frühjahr vorgesehen“, erklärt Cornelia Höhl, Sprecherin der Straßenbehörde „Hessen Mobil“ in Schotten. Der Ausbau der 4,6 Kilometer langen Strecke wird anderthalb Jahre dauern.
Ekkehart Böing, Verkehrsplaner im Karbener Rathaus, sieht das weniger tragisch: Die wichtige Verbindung zwischen der Landesstraße nach Burg-Gräfenrode und der B3 sei ja offen. Der größte Teil der Entlastungswirkung für Karben bleibe erhalten.
Stadtpolizeichef Uwe Axtmann und Verkehrsplaner Böing wollen in den nächsten Wochen mit Argusaugen beobachten, wie sich die Verkehrsströme in der Stadt verändern. „Die Verkehrsteilnehmer müssen sich erst daran gewöhnen, das braucht seine Zeit“, weiß der Fachmann. In der Regel dauere eine solche Gewöhnungsphase ein halbes Jahr. Daraus folgend müssen Ampelphasen zum Beispiel entlang der Hauptdurchgangsstraße angepasst werden. (den)