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Elizas Traum von einem neuen Leben

Das Ensemble beim Intro, das, ähnlich einer Ouvertüre, wichtige Evergreens zu einem Medley zusammenfasst. FOTOS: EUGEN SOMMER
Das Ensemble beim Intro, das, ähnlich einer Ouvertüre, wichtige Evergreens zu einem Medley zusammenfasst. FOTOS: EUGEN SOMMER
Das Ensemble beim Intro, das, ähnlich einer Ouvertüre, wichtige Evergreens zu einem Medley zusammenfasst. FOTOS: EUGEN SOMMER

Mit viel Szenenapplaus hat das Publikum der Bad Vilbeler Burgfestspiele die Wiederaufnahme des meistgespielten Musical-Klassikers aller Zeiten aufgenommen: »My Fair Lady« überzeugte in der Wasserburg mit schwungvoller Choreographie, unvergessenen Melodien, glaubwürdigen Charakteren, Humor zwischen britischem Ascot und Berliner Zille-Milieu.
Zunächst gehörte die Aufmerksamkeit an diesem Abend des EM-Viertelfinales jedoch nicht ungeteilt dem Musicalgeschehen: »Wenn jetzt gleich ein Tor für Deutschland fällt, springe ich auf und schreie – egal, was man von mir denkt«, ließ ein Fan seine Umgebung wissen. Eine Viertelstunde später war der kollektive Fußballtraum vorüber und alle konnten sich voll und ganz dem Blumenmädchen Eliza Doolittle (Julia Steingaß) und ihrem großen Traum von einem neuen Leben zuwenden.
Blumenmädchen
trifft auf Professor

Zur Musik von Frederick Loewe (Musikalische Leitung: Philipp Polzin), umgesetzt in Choreographien von Kerstin Ried (Dance Captain: Rita Correia), inszenierte Regisseur Christian H. Voss eine bezaubernde und zeitgemäße Fassung des Pygmalion-Stoffes, den Bernhard Shaw 1913 in seinem gleichnamigen Schauspiel aufgriff: Die Ungleichheit der Geschlechter, der Klassen, der Lebenschancen liefert Stoff genug für die Geschichte zwischen dem Blumenmädchen und dem Phonetik-Professor Henry Higgins.
In seinem Dasein als überzeugter Junggeselle gefangen, betrachtet Higgins seine Umgebung, vor allem die Frauen, ausschließlich als sprachliches Rohmaterial, das es zu sichten und zu optimieren gilt. So geht er eine Wette mit seinem Freund Oberst Pickering (Kai Möller) ein, dass es ihm gelingen werde, Eliza binnen sechs Wochen per Sprachbildung zu einer Herzogin zu machen. Oberst Pickering, Higgins Haushälterin Mrs. Pearce (Annette Lubosch) und sogar seine eigene Mutter (Sonja Herrmann) beobachten diese Bemühungen mit zunehmendem Unbehagen.
Misslungene
Kommunikation

Nach einer missglückten »Premiere« in Ascot gelingt es Eliza, auf einem Diplomatenball zu bestehen. Inzwischen gereift, erkennt sie bitter, dass Higgins sie lediglich für ein Bildungsexperiment benutzt hat, ohne an ihr und ihren Gefühlen wirklich interessiert zu sein. Zu spät gesteht sich der Hagestolz seine Liebe zu Eliza ein, die aufbricht, um Verehrer Freddy Eynsford-Hill (Samuel Franco) zu heiraten.
In einem leichtfüßigen Kontrast zu dem Beziehungsdrama – das auch ein Lehrstück über misslungene Kommunikation zwischen Geschlechtern und Paaren ist – standen die Ensemblestücke mit Gesang und Tanz: Auf dem Markt, in London vor 100 Jahren, unter den Floristen, die »Spaniens Blüten blühen« ließen. Tragend in diesen umjubelten Szenen: Elizas Vater Alfred P. Doolittle (Theodor Reichardt), ein Müllkutscher und Trunkenbold, der seine Tochter ebenfalls nur benutzt, um sich selbst aus Armut und Elend zu befreien.
Im flexiblem Bühnenbild von Oliver Kostecka gelang es dem Ensemble, ein flirrendes Kaleidoskop vielschichtiger Emotionen und Handlungsstränge zu kreieren, an dem wesentlich auch die opulenten Kostüme von Monika Seidl und ihrem Team beteiligt waren. Die Dramaturgie oblag Angelika Zwack, die Regieassistenz Sonja Geiger, die Korrepetition Malte Bechtold. In weiteren Ensemble-Rollen wirkten Lukas Schwedeck, Stefan Preuth, Barbara Tartaglia, Veronika Hörmann, Arthur Polle, Merline Kramer sowie der Bad Vilbeler Chor Belvoce, der seit 2003 tanzend und singend als Festspielchor an vielen Produktionen teilgenommen hat.
Evergreens wie »Weil ich weiß, in der Straße wohnst du«, »Ich hätt getanzt, heut Nacht«, »Mit’nem kleinen Stückchen Glück« und »Ich bin gewöhnt an ihr Gesicht« berührten alle Generationen; die Jüngeren bemerkten wohl jetzt erst, woher sie diese »Retro-Songs« kannten, die Älteren schwelgten in Erinnerungen. Wer bereits im Vorjahr da war, hatte Freunde mitgebracht. Ein Besuch dieser Inszenierung, die auch gesanglich trägt, lohnt sich. Patrick Eickhoff