Dass 500 Jahre jüdische Geschichte in Bad Vilbel so wenig sichtbar sind, enttäuscht Rafael Zur, den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde. Doch nun tut sich eine Chance auf, am Rande der Neuen Mitte einen Ort der Erinnerung zu schaffen.
Bad Vilbel. Eine jüdische Gedenkstube könne nach Ansicht der Genossen in Kooperation des Magistrates mit der jüdischen Gemeinde (120 Mitglieder) um den Vorsitzenden Rafael Zur im Haus Frankfurter Straße 48 eingerichtet werden. Damit solle das jüdische Leben in Vilbel vor dem Zweiten Weltkrieg der Bevölkerung dargestellt und die historische Bedeutung der Ereignisse wachgehalten werden.
Die Erinnerung kann auch eine schwere Last sein. Wer mit Rafael Zur durch die Stadt fährt, spürt das. Immer wieder stößt er auf Adressen, die ihn an früher denken lassen. Als er an dem Brunnen neben der Stadtschule vorbeifährt, muss er an den Metzger Löw denken, der dort sein Geschäft hatte. 5000 Reichsmark habe er als Mitinitiator für das Volkshaus (heute Kurhaus) gespendet.
Ein paar Meter weiter, an der Frankfurter Straße 95, liegen jetzt die Trümmer des ehemaligen Früchtehauses. Beim Novemberpogrom wurde die damals schon in nichtjüdischem Besitz befindliche Synagoge zerstört. Nichts erinnert heute daran, bedauert Zur.
Last der Erinnerung
Das fiel kürzlich auf, als er Besuch aus Israel und Argentinien hatte. Aus Argentinien kamen Cousins der Familie Wechsler, aus Israel auch Ruth Selig, Enkeltochter von Simon Wechsler, dem Besitzer der Siegfried-Quelle, der beim Pogrom aus dem ersten Stock seines Hauses in der Frankfurter Straße auf einen Haufen Glasscherben geworfen wurde und daran starb. Zu Besuch waren auch Else Strauß, deren Onkel und Tante in Treblinka und Theresienstadt ermordet wurden, und Kurt Grünebaum, dessen Mutter und Großeltern in Majdanek und Lublin starben.
Die Israelis warfen Zur vor, wie er in dieser „mörderischen Stadt“ nur leben könne. Sie suchten auch vergeblich nach Orten der Erinnerung, etwa nach der Synagoge. „Das hat mich auch gekränkt und verletzt“, sagt Zur. Jedes Jahr zur Wiederkehr der Novemberpogrome, auch gegen die Vilbeler Juden, kommen Erinnerungen hoch. „Meine Familie und meine Kinder fühlen sich hier in Bad Vilbel sehr wohl, aber es ist schwierig, sich jedes Jahr an das zu erinnern, was passiert ist. Ich leide im November“, bekennt Zur.
Er denkt zurück an den Sommer 1942, als ihn die Amerikaner aus dem Lager Zeilsheim befreiten – und an den folgenden Winter, wo er sich, immer noch nur in Sandalen, hungrig und mit Läusen, durchgeschlagen hat.
Heute leben 50 bis 60 jüdische Familien in Bad Vilbel, doch einen Ort des Glaubens, der Erinnerung, haben sie nicht. Zu Feiertagen gehe man in die Synagogen von Bad Nauheim oder Frankfurt, ansonsten treffe man sich bei ihm zu Hause „oder auf der Straße“, berichtet Zur. Auch den Abriss in der Innenstadt sieht er mit Skepsis, manches ist mit jüdischen Namen verbunden. Doch es gibt auch Hoffnung, so Zur. Das Gebäude in der Frankfurter Straße 48-50 am Wasserweg war von 1938 bis 1942 Zuflucht für die letzten jüdischen Vilbeler Familien. Zur sähe es gerne, wenn dort ein Ort der Erinnerung entstehen könnte, eine „Erinnerungsstube“.
Leichen im Keller
Ins Auge gefasst ist bisher, dass das Stadtmarketing vom Alten Rathaus in den Wasserweg umziehen könnte und dass die Stadt eventuell an der Liegenschaft interessiert ist. Stadtrat Klaus Minkel (CDU) bestätigt, „der Ankauf wird ausgelotet“. Der Laden „Knopfloch“ solle bleiben, das Stadtmarketing soll Büros im ersten Stock erhalten. Vielleicht findet der Antrag der SPD Gehör im Parlament.
Doch auch mit den Genossen klappt alles nicht reibungsfrei. 20 Jahre lang habe er für die SPD im Parlament für die Erinnerung gekämpft – und ihm sei noch vorgehalten worden: „Hör auf mit dem Sch. . . , wir haben noch Leichen im Keller“. Heute machen ihm nicht die wenigen Neonazis Sorgen, sondern die latenten Antisemiten. Die machten sich jetzt in der Wirtschaftskrise „wieder salonfähig“. Zurs Antwort ist eindeutig: „Man muss weiter aufklären, den Menschen helfen“, denn Menschen ohne Geschichte seien wie Bäume ohne Wurzeln. „Das ist mein Lebensmotto“ sagt der 78-Jährige und hofft, dass es ihm noch gelingt, mit einer jüdischen Erinnerungsstube ein Stück der Vilbeler Geschichte im Kern dieser Stadt, wohin sie auch gehört, zu verankern. (dd/sam)
Berichte zur jüdischen Geschichte Bad Vilbels finden Interessierte auf der Homepage unter www.alemannia-judaica.de/bad_vilbel_synagoge.htm