Was ist Weihnachten? Diese Frage wird selten richtig gestellt, dafür umso häufiger ungefragt beantwortet. Vor wenigen Tagen erreichte mich per WhatsApp ein Video, in dem solche Botschaften mit süßlicher Musik und niedlichen Bildern zusammengestellt waren. „Weihnachten ist, wenn die Stille im Herzen einzieht.“ Oder: „Weihnachten ist, wenn die Sehnsucht in uns wächst, anderen eine Freude zu machen.“ Oder: „Weihnachten, das sind eine warme Tasse Tee, das Licht einer Kerze und der wundervolle Klang schöner Adventslieder.“
All das ist ein bisschen richtig und doch vollkommen falsch. Denn die „wahre Weihnacht“ ist etwas völlig anderes als Lichterglanz und Lebkuchenduft – wie konnten wir das bloß vergessen? An Weihnachten geht es darum, dass der Große den Kleinen auf Augenhöhe begegnet. Der Allmächtige den Ohnmächtigen beisteht. Der Strahlende sich für keinen Schmutz zu schade ist. Gott wird Mensch und wählt als Ort des Erscheinens den schäbigsten, stinkenden Stall mit den schlichtesten Menschen aus. Eine Zumutung, sozusagen das Gegenteil von Lichterglanz und warmem Tee.
Die „wahre Weihnacht“ fordert uns doppelt heraus. Zum einen dürfen wir glauben, dass Gott auch in unsere eigenen Schäbigkeiten hinein geboren werden will, hinein in die Lieblosigkeit, den Neid und in das Dunkel verlorener Hoffnungen. Zum anderen sollen wir das Licht auch anderen aufscheinen lassen. Im alljährlichen Familienstreit an Heiligabend, am Stammtisch laut pöbelnder Fremdenfeinde, in der lähmenden Stille der Frustrierten und Alleingelassenen.
„Lasst euch verwandeln durch die frohe Botschaft: Nichts muss bleiben, wie es ist! Oben und unten vertauscht er! Er macht Menschen neu! Sie wollen nicht mehr das meiste für sich, sondern das Beste für alle! Und auch du hast das Recht und die Möglichkeit, ein anderer Mensch zu werden!“
Sich selbst verwandeln lassen? Und dann mit diesem Licht ins Dunkel gehen, dahin wo es schäbig ist, vielleicht sogar stinkt? Eine Zumutung. Aber, so denke ich bei einer Tasse Tee: Es ist die bessere Antwort auf die Frage, was Weihnachten ist.
Ingo Schütz, Pfarrer in der Christuskirche in Bad Vilbel