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Bad Vilbel (cf). Über 1,5 Millionen Männer, Frauen und Kinder wurden durch die Nazis in Auschwitz-Birkenau ermordet. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die Gefangenen des Konzentrations- und Vernichtungslagers. Seit 1996 ist der 27. Januar in der Bundesrepublik »Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus«.
Seit einigen Jahren laden die Naturfreunde Bad Vilbel Mitglieder und Bürger zu einem Gedenk-Rundgang ein, mit dem sie die Erinnerung an die über sechs Millionen Toten während des Holocausts wachhalten möchten. Die Vorsitzende der Naturfreunde, Andrea Halling, begrüßte in diesem Jahr 16 Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Mahnmal gegenüber dem Historischen Rathaus.
»Wir erinnern uns an die Bilder der Gräueltaten, die ihren Anfang hier vor unserer Haustür machten. Unsere jüdischen Mitbürger wurden vertrieben, bestohlen, angefeindet, angezeigt, drangsaliert, es wurde ihnen Gewalt angetan, und am Ende wurden viele von ihnen ermordet. Nur wenige überlebten und konnten fliehen. Mit unserem Rundgang und der Stolperstein-Putzaktion wollen wir die Erinnerung an diese furchtbaren Taten wachhalten. Diese Taten dürfen nicht in Vergessenheit geraten, sie müssen uns immer mahnen«, appellierte Andrea Halling an ihre Zuhörer.
Menschen und
ihre Schicksale
Wichtig sei es, sich nicht nur an die Vergangenheit zu erinnern, sondern auch heute Hass und Hetze gegen andere zu verhindern, damit sich die grausame Geschichte nicht in der Zukunft wiederhole. Sie zitierte Margot Friedländer, Überlebende aus dem KZ Theresienstadt: »So hat es damals auch angefangen. Seid vorsichtig. Macht es nicht, respektiert Menschen, das ist doch das Wesentliche.«
Beim anschließenden Gedenk-Rundgang mit Stolperstein-Putzaktion stellte die Gruppe erfreut fest, dass fast alle der insgesamt 25 von Künstler Gunter Demnig von 2006 bis 2009 in Bad Vilbel verlegten Stolpersteine »nach der Instandsetzung der Frankfurter Straße wieder an ihrem Platz sind. Seit einigen Jahren fehlen aber die Stolpersteine vor den Häusern in der Frankfurter Straße 88 der Familie von Karl Lapp und in der Frankfurter Straße 169 der Familie von Hermann Bauer. Über den Verbleib ist bisher nichts bekannt«, bedauert Andrea Halling.
Sie hatte die fürs Putzen notwendigen Utensilien wie Lappen, Wasser und Paste dabei. Während die Naturfreunde die jeweiligen Stolpersteine von Staub und Dreck befreiten, verlas Mitglied Constanze Brucker Informationen zu den auf den Steinen genannten Namen und Daten der Opfer. Sie informierte über die Menschen und ihre Schicksale. So marschierte bereits einen Tag nach der Pogromnacht im Deutschen Reich, am 11. November 1938 ab 17 Uhr, eine »Gruppe namhafter Vilbeler Bürger« durch die Stadt, um jüdische Bürger zu demütigen, zu misshandeln und ihr Eigentum kurz und klein zu schlagen.
Erste Station war das Haus von Simon Wechsler (1856 –Dezember 1938) in der Frankfurter Straße 20. Wechsler handelte mit Getreide, Futter- und Düngemitteln und verdingte sich als Fuhrmann. Er gründete 1938 die »Siegfried Quelle«. Die Nazis misshandelten die Familie, zerstörten die Wohnung, kippten einen auf dem Hof geparkten Lkw um und zerschlugen das Leergut. Aufgrund des am 1. April 1933 in Friedberg ausgerufenen Boykotts jüdischer Geschäfte musste die Familie ihr Geschäft aufgeben und ihr Haus verkaufen. Alle starben in Konzentrationslagern. Stolpersteine erinnern an Simon Wechsler, Betty Wechsler, geborene Nachmann (1862–1942, Theresienstadt), Siegfried Wechsler (1892–1942), deportiert in die Region Lublin und dort ermordet), Johanna »Henny« Wechsler (1900–1942), deportiert in die Region Lublin und dort ermordet). Auch an alle anderen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger erinnerten die Naturfreunde Teilnehmer und Passanten bei ihrem Gedenk-Rundgang. Für die nach dem Übergriff in der Stadt verbliebenen jüdischen Bürger Elise Strauß, Adolf und Fanny Goldberg, Karoline Schiff und Isidor Strauß wurde vorerst bis zur Deportation aller Vilbeler Juden 1942 in der Judengasse 2 ein Ghetto eingerichtet.
Zu den Opfern und Verfolgten gehörten unter anderem der Schulleiter und Lehrer der ehemaligen Vilbeler Realschule, Dr. Albert Chambré (1888–1938, Konzentrationslager Dachau), der Sozialdemokrat und Gewerkschafter Martin Reck, der Allgemeinmediziner Dr. Ludwig Szametz (floh 1933 erst nach Palästina und dann in die USA) und der Küfer Isidor Strauß (Februar 1945 ins Ghetto Theresienstadt deportiert).
Passantin Heidemarie Schmitt dankte den Naturfreunden für ihren Einsatz und ihr Gedenken. »Mein Vater war ein polnischer Schneider, und seine Großeltern sind in einem Vernichtungslager ermordet worden.« Freuen würden sich die Naturfreunde, wenn an ihrem Gedenk-Rundgang künftig auch Vilbeler Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrern teilnehmen würden.