„Wer hat, dem wird gegeben werden, wer nicht hat, dem wird noch das genommen, was er hat.“ Dieser Satz stammt nicht aus einem Lehrbuch für Investmentbanker, sondern steht in der Bibel, Matthäusevangelium 25. Kapitel. Es ist die Schlussfolgerung einer Gleichniserzählung Jesu, in der davon die Rede ist, dass ein Arbeitgeber drei Managern Kapital in unterschiedlicher Höhe zur Verfügung stellt. Nach einem bestimmten Zeitraum lässt er sie antreten, um die Bilanzen offen zu legen. Der erste hat mit den 5 Talenten (Währungseinheit zur Zeit Jesu) weitere 5 Talente erwirtschaftet und wird gelobt und befördert. Ebenso erfolgreich ist der zweite Mann gewesen: 100 % Rendite, denn er hat die 2 Talente auch verdoppelt. Er darf sich auch über einen Karrieresprung freuen. Der dritte Kapitalempfänger hat jedoch das Geld vergraben, aus Angst vor seinem Auftraggeber, den er für einen harten Chef hält, einen, der erntet, wo er nicht gesät hat und sammelt, wo er nicht ausgestreut hat. Er wollte auf Nummer sicher gehen, und ist einfach froh, das eine Talent nun erstatten zu können. Über ihn bricht jedoch ein Donnerwetter herein: „Du böser und fauler Sack!“ Zur Wechselstube oder jener Bank, die noch Zinsen zahlt, hätte er das ihm anvertraute Kapital bringen sollen. Nun wird ihm das sorgsam gehütete Geld genommen und dem gegeben, der das Zehnfache hat. Kapital, das keine Rendite erwirtschaftet, wird abgezogen und in einen Großkonzern investiert, wo es richtig Dividende generiert.
Landauf, landab wird der Schlusssatz „Wer hat, dem wird gegeben werden, wer nicht hat, …“ dadurch entschärft, dass dies Gleichnis im übertragenen Sinn verstanden wird: Es geht doch nicht um Kapital, Investitionen, Rendite oder Zinseinnahmen, sondern um unsere Talente. Für uns längst keine Währung mehr, sondern Sammelbegriff für Begabungen, Fähigkeiten, die es gilt mutig und risikobereit einzusetzen und zu entwickeln, um Erfolg zu haben, zum Wohl der Mitmenschen und zum Wohlgefallen seines Schöpfers. Und es stört kaum jemanden, dass vom himmlischen Auftraggeber wie von einem Shareholder gesprochen wird, der ohne mit der Wimper zu zucken das tote Kapital abzieht und dort investiert, wo es Profit bringt. Ein Oligarch, dem das Schicksal der Arbeitnehmer egal ist; der Finanzbetrieb ist eben hart und kennt kein Erbarmen.
Als Predigerin oder Prediger, hat man die Aufgabe, vielleicht sechsmal im Laufe des Berufsleben dieses Gleichnis Jesu auszulegen; irgendwann kann und will man sich mit dem eingangs erwähnten Schluss nicht abfinden: Einer wird erbarmungslos vor die Tür gesetzt, hinausgeworfen an den Ort der Finsternis, des Heulens (mit den Wölfen?) und des Zähneklapperns. Ist das das Schicksal der Risikoscheuen, der Ängstlichen, derer, die im Geld immer nur ein Zahlungsmittel gesehen haben.
Könnte es sein, dass dies Gleichnis gar nicht für sich selbst steht, sondern im Zusammenhang mit der im Evangelium folgenden Rede Jesu vom „Weltgericht“ (Vers 31-46) gesehen werden muss, und gewissermaßen die Negativfolie für diese darstellt? Dass da eine den Hörern und Lesern der Gleichnisse Jesu nur allzu vertraute Realität geschildert wird? Eine Realität, die den palästinensischen Kleinbauern als Kreditnehmern genauso bekannt war, wie den südamerikanischen Campesinos, denen für ihr Land Kredite angeboten werden, für die sie damit haften und damit das große Risiko eingehen, ihren Acker am Ende an Großgrundbesitzer zu verlieren? Und fragt wirklich keiner, was mit den Menschen passiert, die ein solches Wirtschaftssystem ausspuckt? Ist auch dem biblischen Erzähler das Schicksal des dritten Geldempfängers egal?
Oder gehört der zu den geringsten Brüdern und Schwestern, die bei Matthäus in der anschließenden Rede Jesu vom „Weltgericht“ genannt werden? Die Hungernden und Dürstenden aller Zeiten, die Notleidenden und Kranken, die Flüchtlinge und Gefangenen? Eben die Verlierer einer auf Wachstum und „Immer mehr“ programmierten Wirtschafts- und Finanzpolitik, die nicht Schritt halten können und hinaus, eben auf die Schattenseite des Lebens, katapultiert werden? Jesus jedoch lässt keine Zweifel aufkommen, dass der Gott, dessen Liebe er lebt und lehrt, sich mit all diesen Verlierern identifiziert: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“
Darum kann doch ihr Schicksal keinem von uns gleichgültig sein und darum muss Kritik an einer Wirtschaftspolitik die Erfolg nur am Wachstum festmacht, ein Thema sein! Meint Ihr
Pfarrer Hans Karl Heinrich,
Ev. Kirchengemeinde
Bad Vilbel-Gronau