Den eindringlichen Klang des Schofar-Horns höre ich noch heute in meinen Ohren, wenn ich daran denke, wie ich als Student das jüdische Neujahrsfest Rosch ha-Schana mitgefeiert habe, damals in der Großen Synagoge in Jerusalem. In diesem Jahr feiern unsere jüdischen Geschwister dieses Fest vom 9. bis 11. September. Nachhaltig hat mich beeindruckt, mit welcher Ernsthaftigkeit diese Festtage begangen werden. Ein Neujahrsfest ohne Knaller und Raketen. Es bildet den Auftakt zu einer zehntägigen Zeit der Reue und Besinnung. Im Mittelpunkt steht die Umkehr des Einzelnen zu Gott: Menschen nehmen sich Zeit, ihr Leben zu überdenken. Wo spüre ich, dass ich mein Verhalten ändern sollte? Wie kann mein Leben mehr ein Lobpreis Gottes werden? Wo lebe ich im Unfrieden, wo muss ich Schritte der Versöhnung gehen?
Das alte Schofar-Horn, das in diesen Tagen oft geblasen wird, trägt symbolisch die Gebete und Bitten der Menschen um Vergebung zu Gott hinauf und erinnert ihn an seine Barmherzigkeit. Wie prägend eine solche religiöse Handlung für die Seele des Einzelnen sein kann, kommt mir immer wieder in den Sinn, wenn ich heute an den diesen schrillen, langen, einsamen Ton des Schofar-Horns beim jüdischen Neujahrsfest denke.
Wie wichtig es ist, sein Leben vor Gott zu reflektieren, führen uns Jüdinnen und Juden in diesen Tagen vor Augen. In unserer christlichen Tradition waren es besonders Martin Luther und Ignatius von Loyola, die eine regelmäßige Erforschung des Gewissens empfohlen und gelebt haben. Maßstab waren für sie vor allem die Zehn Gebote und die Aufforderung Jesu: „Liebe Gott – und deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Matthäusevangelium 22, 37.39)
Ist es nicht genau das, was unsere gegenwärtige Zeit so dringend braucht? Menschen, die sich selbst und ihr eigenes Handeln darin ernstnehmen, dass sie sich vor Gott gestellt wissen? Wer merkt, dass er in seinem Leben den eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird, wird auch barmherziger mit sich selbst werden – und mit seinen Mitmenschen. Wer merkt, dass auch er den Geist der Spaltung in sich trägt, wird sich versöhnen lassen und zum Brückenbauer werden. Wer merkt, dass sein Tun und Machen fruchtlos ist, wenn Gott nicht das Entscheidende tut, wird befreit über sich selbst lachen können, wenn er sich mal wieder zu wichtig nimmt. Denn Christen wie Juden vertrauen auf einen liebenden und barmherzigen Gott, von dem die Hebräische Bibel/das Alte Testament nicht müde wird zu betonen: „Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte!“ (Ps 103,8)
In dieser gemeinsamen Überzeugung verbunden wünsche ich unseren jüdischen Geschwistern „Shana tova“ – ein gutes neues Jahr!
Pfarrer Johannes Misterek
Ev. Kirchengemeinde Dortelweil