Nidderau. In jedem Urlaub warten Klara und Robert Bastian auf einen Regentag. Dann finden die beiden Zeit, einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen nachzugehen: Sie schreiben Ansichtskarten. „Wir machen das einfach gerne“, sagt das Ehepaar. So wissen Familie, Freunde und Bekannte, wie es ihnen geht, und kriegen ein Bild vom Urlaubsort.
Mit ihrer Leidenschaft stehen die Bastians mittlerweile auf fast verlorenem Posten. „Die Zeiten der Ansichtskarte sind vorbei“, sagt Robert Bastian. Er ist von Natur aus ein interessierter Zeitgenosse, selbst Hobby-Fotograf, und bereitet als Vorsitzender des Geschichtsvereins Heldenbergen regelmäßig regionale Themen auf. Deshalb sammelt er seit 50 Jahren historische, aber auch neuzeitliche Ansichtskarten.
In Kisten und Kästen sowie in Karten-Alben finden sich wahre Kleinodien, deren Motive Einblicke in die sich wandelnde Alltagsgeschichte geben. Insbesondere interessieren ihn Karten aus dem heutigen Nidderau, vorzugsweise Heldenbergen. „Anhand der Karten kann ich verschiedene Zeitepochen erkennen und die Entwicklung der Ortschaften verfolgen.“
Auch die Schrift und die Frankierung erzählen Geschichte auf ihre eigene Weise. So kann Bastian beispielsweise mit einem Blick auf Vorder- und Rückseite der Karten eine vorläufige grobe Datierung vornehmen. „Vor 1905 durfte die Adressseite gar nicht beschrieben werden.“ Nachrichten und Grüße standen deshalb auf der Vorderseite. Der dort eingedruckte „Gruß aus . . .“ findet sich auch heute noch auf zahlreichen Karten.
Mit der Einführung der Ansichtskarte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde eine völlig neue Art der Kommunikation geschaffen. Die Fotografie steckte noch in den Kinderschuhen, und es gab keine elektronische Post, geschweige denn Mobiltelefone.
Der preußische Postrat Heinrich von Stephan hatte 1865 erstmals die Idee, Postkarten ohne Umschlag zu verschicken. Für die preußische Postverwaltung unvorstellbar, denn es hätte sie ja jeder Unbeteiligte lesen können. Vier Jahre später führte Österreich die erste „Correspondenzkarte“ ein, eine Postkarte ohne Bildaufdruck. Als der Postrat von Stephan zum Generalpostdirektor wurde, führte er 1870 ebenfalls eine „Korrespondenzkarte“ ein.
Der 16. Juli dieses Jahres gilt als der Geburtstag der Ansichtskarte. Sie wurde vom Hofbuchhändler August Schwarz mit dem Bild eines Kanoniers bedruckt und an seine Schwiegereltern in Magdeburg verschickt. Ein Jahrzehnt später wurde die Ansichtskarte zum industriell gefertigten Massenartikel. 1899 wurden in Deutschland 88 Millionen Karten produziert. Sie waren schnell beim Adressaten und billiger als ein Brief.
In privater Heimarbeit wurden sie geklebt, gestickt und appliziert, gemalt und mit Veilchenduft versehen. Kaum ein Thema, das nicht abgebildet wurde: Landschaften, Tiere, Liebespaare, politische Ereignisse ebenso wie kuriose und frivole Szenen.
Postkarten dokumentierten den technischen Fortschritt von Fahrrad, Auto und Flugzeug. Verständlich, dass die Leidenschaft die Sammler auf den Plan rief. Sammelvereine entstanden, -magazine und -steckalben überschwemmten den Markt. Menschen, die nicht verreisen konnten, holten sich die Welt per Ansichtskarte ins Haus. Zumindest die heile Welt: Hauptsächlich zeigten die Karten die Sonnenseite des Lebens.
Das goldene Zeitalter der Ansichtskarte triumphierte im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Die Feldpostkarte war sozusagen die Nabelschnur der Soldaten zu ihren Familien. „Manche Feldpostkarten in meinen Alben sehen aus wie ein Schlachtfeld“, sagt Robert Bastian.
Natürlich freuen sich die Bastians auch, wenn der Briefträger Urlaubskarten in ihren eigenen Briefkasten steckt. „Leider kriegen wir selbst nur wenige Karten“, bedauern die beiden. „Dabei kann man auf einer Karte so viel sagen.“