Eine Auswanderergeschichte aus dem 19. Jahrhundert hat es Wolfgang Boos angetan. Seit 1999 findet er immer wieder neue Spuren des Ludwig Wilhelm Müller, der 1853 von Massenheim an den Missouri zog, dort den Bürgerkrieg erlebte und just an dem Tag vor Aufregung starb, als er sein erstes eigenes Bier brauen konnte – vor genau 120 Jahren.
Bad Vilbel. Nicht zufällig steht die große Schautafel, eine Weltkarte mit Müllers Lebensstationen, im Massenheimer Heimatmuseum. Dort, so erläutert Boos, ging Müller (1828 – 1892) einst zur Schule. Im heutigen Lokal „Zum Knoche“ kam er als Sohn eines Schneiders zur Welt. Gegenüber, in der evangelischen Kirche, wurde er getauft. Gründe für Gottvertrauen gab es in seinem späteren Leben genug.
Auf Müllers Vita stieß Boos über den Massenheimer Lokalhistoriker Otto Gleichmann, aber dann folgte die Feinarbeit, Details, die ihn bis ins Washingtoner National-Archiv der USA und nach Cape Girardeau / Missouri führten, wo Müller als Louis William Miller am 7. April 1892, einem Donnerstag, begraben wurde. „Mr. Miller war ein Preuße, der als kämpferischer junger Mann in die USA gekommen ist, mit dem Ziel, seine Lebenssituation zu verbessern und das Leben derer in seiner Umgebung zu unterstützen“, schrieb damals die Zeitung Cape Girardeau-Democrat.
Strapaziöse Reise
Als Müller im Alter von 24 Jahren auswanderte, war Massenheim ein Dorf mit 300 Seelen. 30 davon verließen den Ort, 13 von ihnen gingen nach Nordamerika, hat Boos herausgefunden. Die einst florierende Leinenweberei war im Niedergang, Vater Müller konnte seine sechs Kinder kaum noch ernähren. Müller fand mit der Rodheimer Familie Ludwig Gleichgesinnte.
Die Ausreise in die USA war eine einzige Strapaze. Akribisch listet Boos den Weg auf: Mit dem Pferdefuhrwerk und den Habseligkeiten in einer Auswandererkiste ging es zunächst zum Frankfurter Taunusbahnhof, wo heute die Europäische Zentralbank steht. Der Zug endete in Mainz-Kastel, wo es nur per Schiff rheinabwärts zehn Stunden lang nach Köln ging. Von dort ging es im Zug nach Paris und weiter nach Le Havre, schließlich im Zwischendeck eines Schiffes über den Atlantik, mit der „miesesten Beförderungsebene“. Nur von Öllampen erhellt, mit wenig Wasservorräten und bei schwerem Seegang dauerte es 41 Tage bis zum Hafen von New York. Und noch genau 475 Bahnstunden, bis St. Louis erreicht war. Miller nahm auf Seiten der Unionisten am Bürgerkrieg teil, legte dafür von 1861 – 1864 etwa 4000 Kilometer zurück. In Cape Girardeau stieg er in den Spirituosenhandel ein, erfand auch eine Eismaschine für seine geplante Brauerei, damals, bei 40 Grad im Sommer, wurde Eis noch per Schiff, wochenlang in Stroh gehüllt, angeliefert. Doch ausgerechnet am Tag des Brauereistarts verstarb er an einem Herzinfarkt.
„Ich war früher beruflich oft in den USA“, erläutert Boos. Später, nach seiner Pensionierung, reiste er mit Frau Brigitte zwei Mal zu den Orten Müllers. „Als Privatperson“ und ohne finanzielle Unterstützung des Geschichtsvereins, betont er. Eine entfernte Verwandte Millers hat Boos sogar in Massenheim ausgemacht, sonst haben die Historiker „nichts mehr erfahren – bis jetzt.“ Dafür hat Boos schon eine neue Recherche gestartet.
An Briten verkauft
Da geht es um die jungen Massenheimer Brüder Hinkel, die vom Hanauer Erbprinzen Ende des 18. Jahrhunderts an die Briten verkauft wurden, die gegen die amerikanische Unabhängigkeit kämpften. Einer davon kehrte nach Massenheim zurück, wurde an der evangelischen Kirche begraben. Als der Kirchhof 1856 aufgelöst werden musste, wurden die Gebeine ohne Hinweise auf den neuen Friedhof gebracht. Das, so Boos enttäuscht, könne in den USA nicht passieren, „die Amerikaner haben ganz genaue Aufzeichnungen.“ In Virginia hat Boos Spuren gesucht, 2013 will er die Geschichte der Brüder in Massenheim vorstellen.