In China sind in den letzten dreißig Jahren Millionen von Menschen zu Christen geworden. Manche gehören zu der offiziell anerkannten Kirche, viele jedoch zählen zu den Hauskirchen, die an vielen Orten im Verborgenen existieren. Ihre Mitglieder sind Repressionen ausgesetzt. Und dennoch: Christen (wie auch die Anhänger anderer Religionen) trauen sich verstärkt in die Öffentlichkeit. Sie scheuen sich nicht mehr davor, von ihrem Glauben zu erzählen.
Hierzulande ist es selbstverständlich, dass die Kirche in der Öffentlichkeit präsent ist: Am Ortseingang weisen Schilder auf die Gottesdienste hin; das Glockengeläut ist weithin hörbar, und die Pfarrer dürfen ihre Gedanken in Zeitungskolumnen äußern. Es ist also folgerichtig, dass an diesem Sonntag die ev. Christuskirchengemeinde ihr Gemeindefest vor dem Kurhaus feiert – in aller Öffentlichkeit. Das finde ich gut, denn damit nimmt die Kirche ernst, dass der Glaube nicht nur eine Privatangelegenheit ist, sondern eine öffentliche Dimension hat.
Nun sagen manche, Jesus habe den Menschen doch ihr Kämmerchen zugewiesen für ihre fromme Praxis. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Zwar hat sich Jesus oft zurückgezogen, um allein zu beten. Aber gepredigt hat er außer in den Synagogen auch auf öffentlichen Plätzen und Straßen. Das Evangelium gehört deshalb auch heute auf die Straße, in das Fernsehen, in die Zeitung und vor das Kurhaus. Es gehört in die öffentliche Diskussion und in das Gespräch mit Nachbarn. Jesus hat es so formuliert: „Was euch gesagt wird ins Ohr, das verkündet auf den Dächern.“ (Matthäus 10, 27). Das Evangelium gehört auf die Dächer. Wir brauchen keine Kirche, die sich verschämt zurückzieht, sondern eine Kirche, die ihre Stimme und ihre Erfahrung in diese Welt deutlich hörbar einbringt. Dabei ist die Versuchung groß, mit den vielen anderen in dasselbe Horn zu stoßen und Dissonanzen zu vermeiden. Aber gerade das kann die Aufgabe der Kirche sein: Unbequem sein und unbequeme Fragen stellen. Das Evangelium ist nicht identisch mit dem, was allgemein als politisch korrekt angesehen wird. Manchmal geht es den Menschen gegen den Strich. Deshalb kostet es Mut, auf die Dächer zu gehen.
Pfr. Dr. Jens Martin Sautter
Ev. Christuskirche Bad Vilbel