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Am Anfang ist die Sehnsucht

Wonach sehnen Sie sich? Ich meine nicht den konkreten Wunsch, der vielleicht an Weihnachten erfüllt werden kann. Oder den nächsten Karriereschritt, oder ein bestimmtes Ereignis. Ich meine die Sehnsucht, die tiefer liegt. Die mir oft verborgen ist und doch mein Leben und meine Entscheidungen bestimmt. „Die Sehnsucht ist der Anfang von allem.“ So sagt die Schriftstellerin Nelly Sachs. Ich bin überzeugt, dass in der Sehnsucht, die sich in uns meldet, Gott selbst anwesend ist. Dass diese Sehnsucht die Stimme Gottes ist, die uns zu ihm zieht. Deshalb sollten wir dieser Sehnsucht nachgehen.

In der Bibel kommen Menschen zu Wort, die sich nach Gott sehnen. „Wie der Hirsch nach frischem Wasser lechzt, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.“ So heißt es in einem Psalm. Und Jesaja (Kapitel 63) ruft: „Wo bist Du, Gott? Zerreiß den Himmel, komm runter und greife ein!“ Der Prophet, und mit ihm das ganze Volk, fühlt sich von Gott verlassen. Alle Sicherheiten sind zerstört. Die Sehnsucht nach Gott ist groß.

Ich bin mir sicher, manche von Ihnen kennen diese Sehnsucht auch. Die Sehnsucht danach, dass Gott sich Ihnen zuwendet. Dass er Beziehungen in Ordnung bringt und Geborgenheit schenkt. Dass endlich Frieden herrscht, dass die Menschen nicht mehr verhungern und sich endlich die Gerechtigkeit durchsetzt. Lassen Sie uns diese Sehnsucht nie verlieren! Denn sie macht uns Beine. Sie bewahrt uns davor, uns mit dem Status quo abzufinden. Nun ist es aber so: Die Frage: „Wo ist Gott?“ könnte auch leicht in eine Beschwerde ausarten, die uns resignieren lässt. Aber bei Jesaja wird aus der Beschwerde ein Lied der Sehnsucht. Und zwar indem nicht mehr gefragt wird: „Wo ist Gott?“, sondern: „Wo bist du, Gott?“ Wo die Beschwerde zum Gebet wird, kommt eine Sehnsucht hinein, die von Gott etwas erwartet. Meine Frage ist: Wo bleiben Sie bei der Beschwerde stecken? Wie kann auch bei Ihnen aus der Beschwerde ein Gebet werden?

Was hat das Ganze nun mit Advent zu tun? Es könnte ja sein, dass unsere Sehnsucht ins Leere läuft, dass sie nicht aufgenommen wird, sondern im Nichts verloren geht. Die Bibel sagt uns aber, dass unsere Sehnsucht auf die Sehnsucht Gottes trifft. Ja, dass vor unserer Sehnsucht die Sehnsucht Gottes nach uns schon da war. Nach christlichem Verständnis ist Gott keine in sich ruhende Energie, die man aufwändig anzapfen muss. Anders herum ist es richtig: Gott sehnt sich nach einer Beziehung mit den Menschen und kommt deshalb zu uns, in diese Welt hinein. Das ist es, woran wir im Advent denken. Gott sehnt sich nach mir – das muss man sich erst auf der Zunge zergehen lassen. Vielleicht ist in diesem Advent dazu Zeit.

Pfarrer Jens Martin Sautter,

Ev. Christuskirche Bad Vilbel