In ihrer Mittagspause rief sie mich von der Arbeit an. Sie hat gerade meine E-Mail gelesen. Ich war auf der Suche nach einer Person, die einer Flüchtlingsfamilie helfen könnte. Die Sprachbarriere erlaubte mir bisher keine direkte Kommunikation mit der Familie. Sehr umständlich habe ich die dringendsten Anliegen klären können. Und so schilderte ich jetzt am Telefon kurz die Situation der hochschwangeren Mutter. Die mir noch unbekannte Person beherrscht die Sprache der Hilfesuchenden. Sie sagte mir aber, dass sie beruflich sehr eingespannt ist und zudem außerhalb von Bad Vilbel arbeitet. Trotz allem erklärt sie sich bereit, noch am selben Tag auf ihrem Heimweg bei der Familie vorbeizuschauen. Ich bedanke mich für ihre spontane Hilfsbereitschaft. Dem fügt sie hinzu: „Ich bin selbst vor Jahren nach Deutschland gekommen. Ich weiß, wie schwer das ist. Und mir ist auch geholfen worden.“
Die Begründung berührt mich. Sie erinnert mich an die Begegnung, die von Jesus mit einer Prostituierten überliefert ist. In Lukas 7,36-50 wird uns geschildert, wie Jesus einst Gast bei einem frommen Menschen war. Während des Gastmahls trat eine fremde Frau zu Jesus und salbte ihm die Füße. Während dieser Handlung gab sie kein Wort von sich. Nur Tränen rannen ihr über’s Gesicht. Der Gastgeber konnte in ihrer Handlung nur verächtlich das Verhalten einer Prostituierten erkennen. Jesus klärte seinen in frommer Blindheit lebenden Gastgeber über die wahre Situation der Frau auf: „Ihre große Schuld ist ihr vergeben worden. Eben deshalb hat sie mir so viel Liebe erwiesen. Wem wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe.“ (Lukas 7,47)
Übertragen in unsere heutige Situation gilt dies entsprechend: Wem viel geholfen worden ist, der kann anderen auch viel helfen. Dabei muss man gar nicht viele Worte machen. Gesten sprechen über kulturelle Grenzen hinweg eine unmissverständliche Sprache. Dies wird bei der Frau zu Jesu Füßen deutlich. Die Konfrontation mit menschlicher Not offenbart jedoch, wie sehr ich selbst Hilfe erfahren habe oder eben auch nicht. Wenn ich von einer großen Last befreit worden bin, habe ich Kopf und Hände frei, um selbst andere zu entlasten. Das Ausmaß meiner „Entlastung“ lässt sich nach Jesu Aussage an dem Umfang meines liebevollen Engagements erkennen. Deshalb lade ich gerne dazu ein, sich bei Jesus Christus „entlasten“ zu lassen. Ist erst einmal die eigene Seele frei und hat man Vertrauen zu dem helfenden Gott gefasst, schreckt auch eine große Anzahl von Hilfesuchenden, wie wir sie derzeit erleben, nicht mehr. Stattdessen kann man engagiert auf andere zugehen. Je mehr Menschen Hilfe erfahren, desto größer wird die Schar der zukünftigen Helfer sein.
Hilfsbereite Grüße, Ihr
Pastor Clemens Breest
Freie ev. Gemeinde Bad Vilbel