Lessings Ode an die Toleranz erlebte an der Burg eine Frischekur. Trotz der Dialoge im Blankvers der deutschen Klassik überzeugte Ina Annett Keppels Inszenierung auch als leidenschaftliches Gewissens-Drama.
Bad Vilbel. Dunkelbraun mit schwarzen Brandspuren füllt Nathans Haus bedrohlich die Bühne. Steile Leitern und eine schräge Spielfläche auf der Bühne markieren einen Ort, an dem es ungemütlich, eng, mitunter ausweglos zugeht. Schauplatz Jerusalem: Dort siedelte Gotthold Ephraim Lessing seinen „Nathan“ 1779 an – in der Zeit des Dritten Kreuzzuges während eines Waffenstillstandes. Doch die bis heute diesen Ort prägende latente Spannung überträgt sich nicht allzu sehr auf die Charaktere.
Grübler & Einflüsterer
Regisseurin Ina Annett Keppel, die im vergangenen Jahr Shakespeares „Romeo & Julia“ als Abfolge dynamischer Begegnungen inszenierte, setzt auch diesmal eher auf die psychologischen Konflikte: Liebe in Zeiten der Gefahr. Sie verwandelt Lessings Personal in zeitgenössische Grübler, Einflüsterer und Zauderer.
Der mächtige Sultan Saladin (Volker Weidlich) ist ein honoriger älterer Herr, der beim Schachspiel mit Schwester Sittah (Angelika Bartsch) eingeführt wird, das er ihretwegen als verloren abbricht. Seinen Gegenspieler Nathan gibt Thomas Dehler mit einer verblüffenden Mischung aus Jovialität und Geistesgröße. Ein Weiser von heute, charmant und nachdenklich, aber mit sympathischer Bühnenpräsenz.
Als Kontrast spielt Eva Maria Kapser Nathans Waisentochter Recha als Freibeuterin des Herzens, mal wild wie ein Schulmädchen, mal verzweifelt und selbstverloren. Ein junger Wilder ist auch Thomas Wild, der des Sultans Schatzmeister Al-Hafi wie einen jungen Halbstarken spielt – und damit irritiert. Denn es geht in dem Stück um den rechten Glauben, aber auch um Geld, das Al-Hafi zur Finanzierung von des Sultans Kriegen braucht.
Im Mittelpunkt aber steht die Rolle der Religion als Macht- und Zuchtfaktor. Ein junger Tempelherr, von Stefan Schuster mit dem stillen Ernst des Verzweifelten gespielt, hat Recha gerettet: ein Christ eine Jüdin. Das will er nicht wahrhaben, doch Recha verehrt ihn – und Nathan will ihn belohnen. Der Tempelherr, verunsichert, kontert: „Welches Volk hat als erstes mit der Menschenmäkelei begonnen“, sich auserwählt zu fühlen. „Sind wir unser Volk?“, entgegnet Nathan trocken. Das bringt den Sultan in Verlegenheit: „Ich bin auf Geld gefasst; und er will Wahrheit. Wahrheit! Und will sie so, so bar, so blank, als ob die Wahrheit Münze wäre!“
Die philosophischen Dialoge des Aufklärungs-Klassikers verbinden sich mit der Suche der Figuren nach Anerkennung und festem Halt. Doch weil sie alle zerrissen sind zwischen Loyalitäten und Herkunft, ist Lessings großes Finale, bei dem alle zu einer Menschenfamilie zusammenfinden, eher ein frommer Wunsch. Ein intellektuelles Finale, das Sittah ungläubig kühl mit den letzten Worten kommentiert: „Was hör’ ich. Wie könnt’s auch anders sein.“
Die starken Szenen des Stückes liegen vor allem in kraftvollen Bühnen-Duellen zwischen gedanklichen Gegenspielern. Wenn der Sultan als abgeklärter Herrscher dem aufgeklärten Nathan lauscht, wenn die lebenshungrige Recha um den von Kämpfen müden Tempelritter wirbt. Oder wenn die Einflüsterer ihre Chance wittern, wie die fürsorgliche Erzieherin, aber unerbittliche Christin Daja, die Recha unbedingt mit dem Tempelritter ins christliche Abendland schicken will.
Manchmal erhalten die alten Dialoge auch unvermittelte Aktualität. Als der Patriarch von Jerusalem dem Tempelritter zuruft: „Denn ist nicht alles, was man Kindern tut, Gewalt? Ausgenommen, was die Kirch’ an Kindern tut“, gibt es spontan Applaus. Viele Zuschauer fühlen sich da offenbar an die Missbrauchsaffären von Priestern erinnert. Am Ende erspielt sich das Ensemble einen langen Applaus des Publikums, den diese Klassiker-Renaissance auch verdient hat.