Fünf Jahre lang schlug für Grasbahnfahrer in Bad Vilbel das Herz ihres Motorsports. Hier fand am 22. September 1963 auf dem damaligen Sportplatz Heilsberg, auf dem Gelände des heutigen Einkaufsmarktes hinter dem Verkehrskreisel, mit dem 12. Meisterschaftslauf des Deutschen Motorsport Verbandes (DMV) Hessen, das erste nationale Grasbahnrennen statt. In den folgenden Jahren wurden dann vier Mal weitere Wertungsläufe für die hessischen und deutschen Meisterschaften in der Stadt der Mineralquellen ausgetragen.
Bad Vilbel. Veranstalter der nationalen Grasbahnrennen in der „Stadt der Mineralbrunnen“ war der Motor-Sport-Club Bad Vilbel (MSC Bad Vilbel), dessen örtliche Fahrer in der Klasse der Seitenwagen erste Plätze belegten. Grasbahnrennen waren bei schönem Wetter eine staubige Angelegenheit, bei regnerischem Wetter eine Schlammschlacht bei der auch der „Führende“ nicht sauber blieb. Alle Sportler sahen nach den Rennen aus wie „fahrende Matschhaufen“.
Ausgeschlagene Zähne durch herumfliegende Brocken und Stürze gehörten zum Risiko der Fahrer. Soweit bekannt, gab es glücklicherweise bei den fünf DMV-Grasbahnrennen in Bad Vilbel selten schwere und keine tödlichen Unfälle. Vor allem in den Kurven mussten die Zuschauer Deckung vor Sand, Steinen oder Matschbrocken suchen.
Benzin im Blut
Unabhängig vom Wetter sind Grasbahnrennen eine harte Motorsportart. Geplant, organisiert und durchgeführt wurden die Vilbeler Grasbahnrennen, die immer sonntags stattfanden, von Clubmitgliedern des MSC unter Leitung ihres Vorsitzenden Heinrich Blank. Anfangs waren Grasbahnrennen in der Quellenstadt kleine Veranstaltungen, die von wenigen Vilbeler Firmen gesponsert wurden. Mit der Zeit etablierten sie sich deutschlandweit.
Die Fangemeinde und das öffentliche Medieninteresse wurde immer größer. Die professionell organisierten Veranstaltungen hatten ein Rahmenprogramm. So präsentierte sich beispielsweise bei seinem Auftritt der Fanfaren- und Spielmannszug des Bad Vilbeler Turnvereins beim zweiten Grasbahnrennen 1964 den Besuchern erstmals in seinen neuen historischen Gewändern.
An der Rennstrecke waren Zuschauertribünen aufgebaut und im Wind flatterten an hohen Masten Fahnen. Für die Sieger gab es anfangs neben Applaus und anerkennendem Schulterklopfen Spirituosen oder Reifen. Später von örtlichen Firmen gesponserte Pokale, Kränze und Preisgelder.
Das Herz der sportlichen Fahrer auf den leichten und schweren Gelände-Rennmaschinen mit und ohne Seitenwagen schlug im Takt ihrer Motoren. Alle hatten „Benzin im Blut“ und Nerven aus Stahl. Sie lieferten sich bei den Rennen spannende Kämpfe, bei denen es nicht an dramatischen Szenen fehlte. „Wer bremst ist feige“, lautete das Motto von Elektroinstallateur Heinz Kunz (1940 – 2010) aus der Lohstraße. Er war als Fahrer fürs Lenken und Gasgeben zuständig. Gebremst wurde nur zum Halt an der Startposition. Kunz bildete mit Autoschlosser Ralf Kreutz (1931 – 1985) ab 1963 in der Seitenwagenklasse (350 ccm) ein Duo. Kreutz musste als Beifahrer den Wagen so „kurbeln“, dass der Winkel zwischen Motorrad und Seitenwagen des starren Horex-Gespannes veränderbar war.
Spezielle Umbauten
Das Duo hatte sein Gespann (Mottorad mit Seitenwagen) speziell für Rennzwecke umgebaut. Fahrer Heinz Kunz war ein großer Motorradfan und MSC-Mitglied. Er nahm ab Ende der 1950er Jahre an Gelände- und Geschicklichkeitsrennen „Am Hang“ teil. Auch MSC-Mitglied Ralf Kreutz fuhr bei Grasbahnrennen auf seiner DKW (125 ccm) auf´s Siegerpodest.
Das erste nationale Grasbahnrennen in Bad Vilbel im September vor 50 Jahren auf dem Heilsberger Sportplatz begann am Samstag mit dem freien Training. Nachmittags stand für die 128 Fahrer aus ganz Deutschland das Pflichttraining an. Da die Rennbahn nur 500 Meter lang war, durften auf ihr laut Sportgesetz nur acht Solo- und vier Seitenwagen-Fahrer zugelassen werden. Deshalb fanden beim ersten nationalen Grasbahnrennen 1963 am Samstag und am Sonntagvormittag Ausscheidungsläufe statt, um die jeweils besten Fahrer der jeweiligen Klasse zu ermitteln.
Am Sonntagmittag begannen, aufmerksam verfolgt von zahlreichen Motorsportfans, die ersten Rennen und Endläufe. Heinz Kunz und Ralf Kreutz starteten mit ihrem Horex-Gespann beim 12. Meisterschaftslauf gleich zwei Mal. In der Klasse bis 400 ccm fuhren sie auf den dritten Platz. In der Seitenwagenklasse „Lizenz-Spezial“ bis 750 ccm holte sich das Vilbeler Duo mit der Startnummer 450 den Sieg.
In der Ausgabe des Bad Vilbeler Anzeigers vom 4. Oktober 1963 schwärmte der Berichterstatter: „In der Klasse „Lizenz-Spezial“ waren wieder einmal wirklich ’Spezialisten’ am Werk. Hier wurde gezeigt, was unter Motorsport zu verstehen ist.“
Heinz Kunz „driftet“
Ein Jahr später gehörte das Duo erneut zum über 120 Fahrer großen Teilnehmerfeld, erreichte jedoch keine Platzierung. Beim dritten nationalen Grasbahnrennen 1965 wurde die Rennstrecke vom Sportplatz Heilsberg aufgrund neuer Techniken auf die Marktwiese hinters Freibad verlegt. Heinz Kunz, der als Elektroinstallateur tätig war, setzte berufsbedingt aus. Erst 1966 baute er ein neues DKW-Motorrad zu einer Rennmaschine um. Auf seiner Einzelmaschine fuhr er keine Siege mehr ein.
Ralf Kreutz fuhr in neuen Seitenwagengespannen mit anderen Fahrern. Heinz Kunz sezte auch 1967 aus. Dafür holte er sich 1968 beim Lauf zur Hessischen Grasbahnmeisterschaft mit Beifahrer Rainer Stein aus Dorheim im 750ccm-Gespann erneut den ersten Platz. „Schmiermaxe“ sprich Techniker war Heinz Nickel. Stürmisch gefeiert wurde die Hessischen Grasbahn-Meister von vielen der 140 Teilnehmer und 4500 Zuschauer. Starten konnten wegen der schmalen Bahn beim letzten DMV-Grasbahnrennen in Bad Vilbel immer nur vier Gespanne nebeneinander.
Zum klassischen Fahrstil von Heinz Kunz gehörte neben der einwandfreien Haltung auf dem Motorrad auch, das „Driften“. Er lenkte stets leicht in die entgegengesetzte Richtung, in die er fahren wollte. 1969 qualifizierte er sich im heutigen Münchner Olympiastadion, dem damaligen BBM-Stadion (Bund Bayrischer Motorradsportler) für die Deutschen Meisterschaften. Die bayrischen Fahrer kesselten den hessischen Konkurrenten ein und nahmen ihm damit die letzte Chance, Deutscher Meister zu werden. Heinz Kunz wurde Fünfter.
Doch noch Meister
1996 erfüllte sich der Motorradsportler mit 56 Jahren einen lang gehegten Traum. Er kaufte sich ein historisches BMW-Gespann. Mit seinem ebenfalls aus Bad Vilbel kommenden Beifahrer Michael Wörner wurde er in der historischen Seitenwagenklasse „Historic Side Car Race“ Deutscher Meister 2000.
Zehn Jahre später erlitt er bei seinem letzten Rennen am 26. Juni 2010 an einem heißen Sonntag auf seinem Motorrad einen schweren Herzinfarkt und verstarb auf der Rennstrecke.
Die Motorsport-Karriere von Heinz Kunz begann als er sich als Teenager mit dem Kauf eines Victoria-Mofas einen Traum erfüllte. Schon bald begann er zu „schrauben“, um sein Mofa zu optimieren. Dem Mofa folgte ein Horex-Gespann, später ESO-Java-Maschinen mit Schwenkern, die 1973 wegen tödlicher Unfälle verboten wurden.
Heinz Kunz’ Schwester Rita hielt sieben Rennen ihres Bruders auf Super 8 fest, darunter das letzte 1968 in Vilbel. Die Mitschnitte will der Geschichtsverein Bad Vilbel 2014 bei einer Veranstaltung in der Alten Mühle zeigen.