Die Herrnhuter Losung für den 9. November 1938 war der Vers aus Jesaja 55,6: „Suchet den Herrn, solange er zu finden ist; rufet ihn an, solange er nahe ist.“ Dieses Prophetenwort sollte sich an diesem Tag als aktueller wie mahnender Zuspruch Gottes erweisen. Denn am späten Abend zeigten sich deutschlandweit die verheerenden Taten derjenigen, die dieses Wort nicht nur ignorierten, sondern in entgegengesetzter Richtung unterwegs waren. Führende Nationalsozialisten veranlassten eine reichsweite und systematische Gewaltorgie gegen Juden. Diese Reichspogromnacht wurde von Menschen verübt, die bewusst gegen den Gott der Juden eingestellt waren. Dies brachten sie dadurch zum Ausdruck, dass sie den Menschen, die als Volk dieses Gottes bezeichnet werden, mit hemmungsloser Gewalt begegneten, die Orte zerstörten, die der Anbetung Gottes gewidmet waren und Gottes Wort, die Thorarollen, vielfach verbrannten.
Wenn man heutigen Darstellungen dieses Ereignisses folgt, waren überwiegend Mitglieder der SA und der SS daran beteiligt. Ein großer Teil der Bevölkerung sah unbeteiligt dem Treiben zu. Die Gewalt, die an diesem Abend in ihrer Zerstörungswut offenbar wurde, erfasste in der Folgezeit immer mehr Menschen. Letztendlich kam Gewalt und Zerstörung auf ganz Deutschland zurück. Es sollte bis zu einem weiteren 9. November im Jahre 1989 dauern, der die Überwindung der grässlichen Narbe – der Teilung Deutschlands – als Spätfolge des Gewaltregimes ankündigte.
Die Herrnhuter Losung vom 9. November 1938 bleibt verbunden mit den damaligen Geschehnissen eine mahnende Einladung zu Gott: „Suchet den Herrn.“ Gott ist zu finden durch Jesus Christus. Und Jesus Christus ist nicht nur zu Juden gekommen, sondern lädt alle Menschen zu Gott ein. Angesichts dieser weitherzigen Einladung Gottes erscheint das Vorgehen in der Reichspogromnacht als kaltherziger Irrsinn. Wenn ich diesen Gott, der auf das engste mit den Juden verbunden ist, für mich persönlich finde, werde ich zwangsläufig zur Achtung gegenüber jedem seiner Geschöpfe finden. Die Beziehung zu Gott, die mir in diesem Vers angeboten wird, ist somit auch eine heilvolle Beziehung zu meinen Mitmenschen. Gerade auch zu den Mitmenschen, die mir fremdartig oder sonderbar erscheinen mögen.
Clemens Breest, Pastor
Freie ev. Gemeinde Bad Vilbel