Wir lieben die Geschichte von dem Außenseiter, der plötzlich zum Helden wird. Vielleicht erinnern Sie sich an den Film „Slumdog Millionär“? Ein Junge aus den Slums von Mumbai schafft es in die Sendung „Wer wird Millionär“. Trotz aller Widerstände und Erniedrigungen durch den Showmaster gewinnt er die Million. Der, den niemand auf der Rechnung hat, wird der große Gewinner.
Warum lieben wir solche Geschichten? Warum haben wir uns gefreut, dass die Japanerinnen Fußball-Weltmeister geworden sind? Oder als die (keineswegs telegene) Sozialhilfeempfängerin Susan Boyle mit ihrer Stimme die Jury einer Fernsehshow überzeugte und anschließend auf den Bühnen dieser Welt Erfolge feierte?
Warum freuen wir uns an diesen Geschichten? Vielleicht, weil wir denken: Wenn die es schaffen, kann ich es vielleicht auch. Nicht unbedingt Opernsängerin werden oder Fußballweltmeister. Aber vielleicht kann auch ich die Widerstände in meinem Leben überwinden und gegen alle Wahrscheinlichkeiten Erfolge feiern. Irgendetwas ist daran an diesen Geschichten. Selbst Gott teilt unsere Liebe für solche Geschichten. Er hat ein besonderes Faible für diejenigen, die sonst niemand auf der Rechnung hat. So ist das von ihm erwählte Volk nicht eines der großen, kulturell und politisch bedeutsamen Völker seiner Zeit, sondern eins der kleinsten: Israel.
Und der Anführer des geknechteten Volkes Israel, der dem Pharao die Stirn bietet, ist ein älterer Herr, der die Blüte seines Lebens eigentlich schon hinter sich hat und außerdem einen Sprachfehler hat: Moses.
Warum nur erwählt Gott solche Leute? Ich denke mir, vielleicht will er uns zeigen, dass wir uns seine Liebe nicht verdienen können. Im alltäglichen Leben ist es doch so: Wir bekommen die Wertschätzung, wenn wir uns vorteilhaft verhalten. Und so denken wir, bei Gott ist es genauso: Gott liebt uns, wenn wir fromm sind. Er erwählt uns, wenn wir uns seiner würdig erweisen. Und manch einem geht vielleicht der Gedanke durch den Kopf: Da gibt es andere Menschen, die Gott sicher mehr lieb hat als mich. Mit denen ist er zufriedener, die haben mehr Gutes getan, mehr gebetet, mehr gespendet. Aber wir können die Liebe Gottes zu uns nicht vergrößern. Er hat uns erwählt, weil er uns liebt. Mehr Begründung gibt es nicht.
Gott hat in seiner Freiheit beschlossen uns zu lieben – jeden einzelnen, und zwar nicht wegen unserer Qualitäten. Das gilt für die Schwachen unter uns genauso, wie für die Starken. Aber um diesen Punkt zu machen, erwählt Gott manchmal besonders die, denen niemand etwas zutraut: „Das Geringe vor der Welt hat Gott erwählt, damit sich kein Mensch vor Gott rühme“ (1. Korinther 1, 28).
Pfarrer Jens Martin Sautter
Christuskirche Bad Vilbel