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Leben aus Gottes Erbarmen-Wort zum Sonntag

Ich traf die Frau im Zug, für zwei Stunden teilten wir ein Abteil. Unruhig war sie, fahrig, nervös nestelte sie immer wieder an ihrem Portemonnaie, ihrem Buch, ihrer Uhr. Unsere Blicke trafen sich, ich meinte Tränen zu erkennen. Wir wechselten ein paar belanglose Sätze. Sie war auf dem Weg in eine Kur. Und plötzlich brach es aus ihr heraus: „Ich habe mir immer solche Mühe gegeben. Ich habe ihm doch alles recht machen wollen.“ Wir kommen ins Gespräch, sie lässt ihre traurige Wut frei. „Ich hab ihn unterstützt beim Diplom, ich habe die Kinder zum Sport gefahren, meiner Schwiegermutter habe ich die Wäsche gemacht, und, und, und…“ Und bald: „Ich kann nicht mehr, will nicht immer nur für andere da sein, ich will, dass sich jemand um mich kümmert.“ – „Und irgend etwas drängt sie immer zum Einsatz für andere…?“ „Mein Vater hat immer sonntags nach der Kirche zu mir gesagt, man bekommt nur etwas für sich, wenn man etwas für andere tut.“

So hat sie die Unbarmherzigkeit gegen sich selbst gelernt. Eingespannt in ein Hamsterrad für Liebe und Anerkennung, immer rennen, nie am Ziel sein. Und hat noch Undankbarkeit erfahren.

Wir telefonierten nach der Zugfahrt noch ein paar Mal. Nach Monaten schickte sie mir eine Karte, sie sei jetzt barmherziger mit sich selbst. Mehr weiß ich nicht von ihr. Auf der Vorderseite der Karte stand: „Es kommt also nicht auf den Willen und die Anstrengung des Menschen an, sondern einzig auf Gott und sein Erbarmen.“ (Römer 9,16)

Sie, Leserin, Leser, Sie sind unendlich wertvoll, nicht wegen Ihres Schaffens, wegen Ihrer Moral, Ihrer Leistung, sondern weil Sie Gottes Kind sind, Sie leben aus Gottes Erbarmen. Bewahren Sie es sich als Lebensgeheimnis; es könnte eine Kur und viele Tränen ersetzen.

Eine gute Zeit

Ihr Pfarrer Werner Krieg,

Massenheim