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Bad Vilbel. Ganz am Ende zieht eine Sternschnuppe ihre Leuchtspur über den Nachthimmel: Anton Bruckner (1824–1896), der große und innovative Komponist, Hochschullehrer und Organist der romantischen Epoche, ist tot.
Mit seinen letzten Worten, nachdem der Tod ihm verkündet hat, dass nun »Sense« sei, preist Bruckner das unendliche Universum, das jedem Menschen innewohne, wie unscheinbar und merkwürdig er auch nach außen hin wirke: »In dieser meiner Welt gibt es einen ganz kleinen, zarten Planeten. Von dorther bin ich gekommen – und dahin kehre ich jetzt zurück.« Spricht’s und wandert mit Würde zurück in seine nunmehr lichterglänzende Puppenkiste, die im Verlauf dieses Figurenspiels für Erwachsene seine Gruft und sein Elternhaus, sein Klavier, die Orgel und das Dirigentenpult, das Konservatorium in Wien und ein Tisch im »Roten Igel«, dem Stammlokal seines Zeitgenossen Johannes Brahms, gewesen war.
Mit Beifall und »Bravo«-Rufen hat das Publikum im Bad Vilbeler Theater Alte Mühle im Rahmen der Festivalwoche Schubertiade plus das »musikalisch flotte Puppentheater« mit dem Titel »Der merkwürdige Herr Bruckner« des Duos Dorothee Carls und Annika Pilstl vom Figurentheater »die exen« goutiert. Über eine Stunde lang gelang es den Figuren- und Schauspielerinnen meisterhaft, die ambivalente Gestalt ihres Protagonisten, Anton Bruckner als Handpuppe, behutsam und vielschichtig zum Leben zu erwecken. Aus der zum Schluss blumengeschmückten Gruft war Bruckner zu Beginn des Abends nach vorsichtigem Klopfen seiner Schauspielpartnerinnen »erwacht«, erstaunt und erfreut darüber, dass man sich nach knapp 130 Jahren noch seiner selbst und seiner großartigen Werke entsann und ihm nachträglich zu seinem 200. Geburtstag gratulierte. Am liebsten hätte er sich sofort daran gemacht, seine unvollendete neunte Sinfonie zu komplettieren – bevor ihm einfiel, dass er ja »eigentlich« schon tot sei. Und so lässt sich der eigentlich unbelebte Hauptdarsteller auf eine facettenreiche Revue im Rückblick auf sein eigenes Lebens ein, durchmisst noch einmal ernste und humorvolle, triumphale und enttäuschende Momente, begegnet Richard Wagner und Beethovens Schädel, Kaiser Franz Joseph I., der ihm ein sorgenloses Alter gewährt, immer wieder dem übergroßen Eduard Hanslick, seinem schärfsten Kritiker, und dazu dem kleinen, koboldartigen Zweifel, der sein nagendes Minderwertigkeitsgefühl aufgrund seiner provinziellen Herkunft verkörpert. Er begegnet den Hühnern seiner Dorfkindheit, die zu seinen unsterblichen Melodien bestens Eier legen können, und nicht zuletzt vielen schönen Frauen, die sein Flehen allesamt unerhört lassen.
Dorothee Carls und Annika Pilstl glückte ein berührendes Figurenspiel über einen Meister voller Widersprüche: Anton Bruckner wurde europaweit gefeiert und verkannt, immer wieder auf den skurrilen Dorfschullehrer reduziert, für seine ausufernden Improvisationen an der Orgel und seine Wagner-Faszination kritisiert. Er war Publikumsliebling und einsamer, mönchisch lebender Sonderling, oft aufgrund seines Schaffensdrangs vollkommen überarbeitet und am Rande des Wahnsinns, zwischen tief-katholischem Glauben und seiner Zählneurose damit beschäftigt, Ordnung ins seelische Chaos zu bringen.
Unter der Regie von Hans-Jochen Menzel, begleitet von Videosequenzen (Tom Franke), ließen Carls und Pilstl eine Vielzahl von Charakteren, Figuren und Szenen entstehen. Für den Bau der ausdrucksstarken Bruckner-Puppe zeichneten Peter Lutz und Christian Werdin verantwortlich.
Von Inge Schneider