Karben. Hartmut Polzer kennt wie kaum ein anderer die Geschichte der Groß-Karbener Juden. Während seiner Recherchen ist er auf viele Schicksale gestoßen. 61 Stolpersteine sind auf seine Initiative hin im Ort verlegt worden. Ein Stein in der Wilhelmstraße symbolisiert die ganze Perversität der Judenverfolgung.
Dort, im Haus mit der Nummer 3, wohnte die Familie Roß. Wie sein Vater verkaufte Moritz Roß in einem kleinen Ladengeschäft Schuhe, Kurz- und Textilwaren. Er war integriert in der Gesellschaft und im Alltagsleben des Dorfes. Der Geschäftsmann engagierte sich im Gesangverein Frohsinn und veranstaltete bei Festen Skat-Turniere. Zeitzeugen, wie der spätere Ortsvorsteher Karl Krieg, sagten ihm Freigiebigkeit und eine warmherzige Natur nach. Als Junge habe er in dem Geschäft Lederschuhe bekommen, obwohl sie seine bedürftige Mutter nicht habe bezahlen können. »Es existieren einige Hinweise, dass es bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten in Groß-Karben keine Probleme im Zusammenleben gab«, erklärt Judaica-Forscher Hartmut Polzer. »Unterschwellige Ressentiments müssen aber natürlich schon vorhanden gewesen sein. Nur so konnte das Unheil dann seinen Lauf nehmen.«
Moritz Roß wollte das, was sich anbahnte, anscheinend nicht wahrhaben. Wie viele andere verschloss er regelrecht seine Augen vor den Entwicklungen. Man habe ihn sogar noch bei Nazi-Aufmärschen am Kriegerdenkmal gesehen, weiß Polzer. Auf Fotos trägt er über der Oberlippe den gleichen Schnurrbart wie Hitler. Lange muss die Familie Roß wohl auf einen günstigen Ausgang der Geschehnisse gehofft haben. Denn Vater Moritz war als Veteran von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs nach Hause zurückgekehrt. Für Tapferkeit vor dem Feind war ihm das Eiserne Kreuz I. Klasse verliehen worden. Seinen linken Unterschenkel hatte man amputieren müssen. »Mir tut man in meinem Karben nichts an. Ich habe doch gedient«, soll er immer gesagt haben.
Trotz der Kriegsversehrtheit lieferte er seine Waren bis nach Himbach, Gründau und Altwiedermus aus. Dafür besaß Roß ein Spezial-Fahrrad, später ein dreirädriges Auto mit Anhänger. Der jüdischen Gemeinde in Himbach lieh er 2000 Reichsmark zum Bau einer Synagoge. Als dann im November 1938 ein Sturm der Gewalt über das Land fegte, blieb auch die Familie Roß nicht verschont. Frühere Verdienste spielten doch keine Rolle mehr.
»Die Drangsale waren erdrückend«, beschreibt Polzer die Situation. »1938 musste Roß sein Geschäft schließen und sein Haus verkaufen. Vom Erlös hatte die Familie nichts, weil das Geld auf ein Sperrkonto eingezahlt werden musste. 3050 Reichsmark forderte das Finanzamt zudem als Sühnebetrag. Man unterstellte dem Juden eine Selbstschuld an den Schäden der Pogromnacht. Versicherungsleistungen kassierte ebenfalls der Staat.«
Als gebrochener Mann zog er schließlich im Dezember 1938 mit seiner Frau Klara nach Frankfurt in die Herderstraße. Von dort wurden die Eheleute am 15. September 1942 nach Theresienstadt deportiert. An diesem Tag waren sie 23 Jahre verheiratet. Es war der neunte Transport, der aus Frankfurt abging. Von den 1378 Deportierten waren 60 Prozent älter als 65 Jahre. Einige starben schon während der Zugfahrt oder begingen Selbstmord. Zwei Jahre später wurden Moritz und Klara Roß in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht und ermordet. Das Vermögen sei zugunsten des Deutschen Reiches einzuziehen, heißt es in einer Akte. Und dann am Ende ganz lapidar: Akte weglegen!
Eigentlich hätte am diesjährigen Volkstrauertag eine Erinnerungsstele für Moritz Roß im Karbener Friedenswald enthüllt werden sollen. Die Veranstaltung fiel aber wegen der Pandemie aus. Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben. Vielleicht werde es am Tag der Befreiung im Mai 2021 nachgeholt, hofft Hartmut Polzer. »Diese Geschichte darf einfach nicht in Vergessenheit geraten. Sie macht die Tragik besonders deutlich.«
Von Jürgen Schenk