Ich erinnere mich genau an den 9. November, an dem die Mauer fiel: Fassungslos und beinahe mit Freudentränen in den Augen saß ich vor dem Fernseher und glaubte nicht, was ich dort sah. Als Nachkriegsmensch hatte ich nie eine andere Realität kennen gelernt als die des geteilten Deutschland. Ich musste mich nicht erst damit abfinden, es war einfach immer so gewesen. Das andere war ein Stück Geschichtsunterricht – wichtig und interessant, aber eben Vergangenheit. Es ist schön, wenn man dann Zeitzeuge von tatsächlich historischen Momenten ist, die einfach schön sind! Der 9. November ist als Tag der friedlichen Revolution einer der schönsten Tage der deutschen Geschichte. Doch da ist auch die andere Realität dieses Tages: Es ist ziemlich genau ein halbes Jahrhundert her, dass in Deutschland die Synagogen brannten, weil fanatisierte Menschen dabei waren, ein Feindbild auf die Spitze zu treiben – und weil Millionen anderer es zur Kenntnis nahmen und nicht den Mut und nicht die Kreativität hatten, dagegen aufzustehen und ihre Stimme zu erheben.
Ich weiß sehr gut, dass es leicht ist für einen Nachgeborenen dies so zu schreiben, und deswegen ist mir die Ergänzung wichtig: Ich weiß nicht, ob ich Einsicht und Kraft gehabt hätte, es anders zu machen. Unstrittig aber ist: Der Brand der Synagogen war ein weiterer schlimmer Schritt auf dem Weg in den Holocaust. Der 9. November ist ein Gedenktag an dunkelste Zeiten deutscher Geschichte.
Wenn das Leben doch nur einfacher wäre! Muss das denn alles auf einen Tag fallen?
Nun: Es ist eben so gekommen und als solches ist es ein Mahnmal, eine Mahnung, wie dicht Freude und Leid manchmal beieinander liegen, wie nah sich Schuld und Gelingen oft sind, wie Geschichte von uns Menschen tatsächlich durch Taten und auch durch Nichtstun gestaltet wird.
Der christliche Glaube lädt uns ein, mit offenen Augen und einem wachen Verstand das eigene Leben zu gestalten und teilzuhaben an der Gesellschaft um uns herum. Der Rückzug in die Privatsphäre ist zwar eine verständliche Folge aus globaler Unübersichtlichkeit und komplexen Problemen um uns herum, aber dieser Rückzug ist keine Lösung. Gott ruft uns auf, die Welt und unser menschliches Miteinander aktiv zu gestalten – mit Kreativität und Mut, Kraft und Entschlossenheit. Das gilt auch und erst recht in den unsicheren Zeiten von Bankenzusammenbrüchen und neuen Männern an der Spitze der Weltmacht USA.
Herzliche Grüße zum 9. November, Ihr
Pfarrer Klaus Neumeier,
Ev. Christuskirchengemeinde
Bad Vilbel