Veröffentlicht am

Wider das Vergessen

Zahlreiche Menschen haben sich zur Gedenkveranstaltung am Mahnmal gegenüber dem Alten Rathaus versammelt. Foto: Fauerbach
Zahlreiche Menschen haben sich zur Gedenkveranstaltung am Mahnmal gegenüber dem Alten Rathaus versammelt. Foto: Fauerbach

Bad Vilbel. Am Wochenende jährte sich zum 86. Mal einer der dunkelsten Tage der deutschen Geschichte. Auch in Bad Vilbel gab es am 10. November 1938 Übergriffe auf Jüdinnen und Juden. Am Mahnmal gegenüber dem Alten Rathaus fand am Sonntag unter beklemmenden aktuellen Umständen eine Gedenkveranstaltung in Erinnerung an die Opfer der Pogromnacht von 1938 statt.
Eingeladen zum gemeinsamen Erinnern an die Entrechtung, Ermordung europäischer Jüdinnen und Juden hatten die jüdische Gemeinde Bad Vilbel, vertreten durch ihre Vorsitzende Vered Zur, und die Stadt, vertreten durch Bürgermeister Sebastian Wysocki (CDU). Am Gedenken nahm als Gast Dr. Orel Sharp, Kantor in Frankfurt, teil.
Ein Angriff auf
die Humanität

Vered Zur erinnerte in ihrer Rede an die Tage um den 9. November 1938, die symbolisch für den Mord an sechs Millionen Menschen stehen. Auch in Bad Vilbel beteiligten sich drei Horden von Mitgliedern der örtlichen SA, SS und Hitlerjugend sowie ein unorganisierter Mob von Zivilisten mit geschwärzten Gesichtern an den gewaltsamen Übergriffen auf die rund 80 jüdischen Mitbürger und der Zerstörung ihres Eigentums. Am späten Nachmittag und Abend des 10. November 1938 drangen 20 NS-Aktivisten gewaltsam in die Synagoge an der Frankfurter Straße 97 ein, zerstörten die Einrichtung und schändeten das jüdische Gotteshaus.
Auch Sebastian Wysocki erinnerte an die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, »die zu den schlimmsten und beschämendsten Momenten der deutschen Geschichte gehört«. Diese Nacht war ein Vorbote des Grauens, das noch kam, aber schon ein »Schlag in das Gesicht von Humanität, Zivilisation und Anstand«. Wie sich die Übergriffe abspielten, recherchierte Berta Ritscher, nachzulesen in dem 1998 erschienenen Buch »Geschichte der Vilbeler Juden«.
Stumme Zeugen
Stumme Zeugen der einst lebendigen 500-jährigen Geschichte der jüdischen Gemeinde in der Quellenstadt sind die von Gunter Demnig verlegten Stolpersteine, die Gedenktafel für Dr. Albert Chambré im Stadtschulhof und der jüdische Friedhof an der Lohstraße.
86 Jahre sind seit der Reichspogromnacht vergangen und Antisemitismus ist nicht nur Geschichte, sondern auch Gegenwart. »Es ist traurig, es ist schrecklich, es ist einfach unbeschreiblich, was hier vor 86 Jahren begonnen hat. Und dennoch ist es heute wieder vorstellbar«, sagte Ve-red Zur. Am 7. Oktober 2023 überfielen Anhänger der Terrororganisation Hamas ein Festival sowie Dörfer in Israel und töten über 1200 Menschen, entführten weitere, von denen noch 101 Menschen Gefangene der Hamas sind. Die Entwicklung seitdem sei auf einen zunehmend offenen und gewalttätigen Antisemitismus in rechtsextremistischen und islamistischen Milieus als auch auf einen relativierenden Umgang und vermehrt israelbezogenen und links-antiimperialistischen Antisemitismus zurückzuführen.
Gefahren für
Demokratie und Freiheit

Zur berichtete, dass es in Berlin Gegenden gebe, die Juden aus Angst vor Übergriffen meiden. Sie erinnerte an die gewaltsamen Zusammenstöße von propalästinensischen Demonstranten und israelischen Fans im Anschluss an das Fußballspiel in der Europa League zwischen Ajax Amsterdam und Maccabi Tel Aviv vor wenigen Tagen. Nahezu zeitgleich kam es zu Pöbeleien und körperlichen Auseinandersetzungen bei einem Freundschaftsspiel gegenüber Spielern des deutsch-jüdischen Sportvereins TuS Makkabi in Britz, einem Ortsteil im Berliner Bezirk Neukölln. In Bad Vilbel »beleidigte vor zwei Jahren der Tennistrainer einer gegnerischen Mannschaft Spieler jüdischen Glaubens, bei Fußballspielen würden jüdische Fans beschimpft, zählte Vered Zur auf. »Der Antisemitismus nimmt weiter zu. Der Vorsatz ›Nie wieder ist jetzt‹ scheint zu verhallen.« Demokratie und Freiheit seien gefährdet durch Rechtsextremismus, durch extreme Linke und Islamisten.
Bürgermeister Sebastian Wysocki zitierte Artikel 1 des Grundgesetzes und sagte: »Gott lehrt uns in allen Religionen nicht Hass und Verachtung, sondern gegenseitigen Respekt und Achtung.« Deutschland trage vor dem Hintergrund der Schoah, der Entrechtung und der Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden, eine besondere Verantwortung im Kampf gegen Antisemitismus. Es gelte auf ihn hinzuweisen, vor ihm zu warnen und laut und sichtbar gegen ihn einzutreten.
Kantor Dr. Orel Sharp griff das zuvor Gehörte auf, zitierte als Beispiel über die Tiefe des Glaubens von Jüdinnen und Juden die Geschichte »The Binding of Isaac« aus dem Buch Genesis, in der Gott Abraham befiehlt, seinen Sohn Isaak zu opfern. Die Gedenkveranstaltung endete mit den vom Kantor vorgetragenen Gebeten »Gott voller Erbarmen« und »Höre Israel«.
Von Christine Fauerbach